Meine Verfuehrung
spontanes Gefühl, dass er mein Leben auf tiefschürfende Art berühren würde. Wie soll er das tun, wenn ich ihn nie wiedersehe? Das war der letzte Gedanke, an den ich mich erinnere, bevor ich in einen Traum glitt.
Nein. Es war ein Albtraum. In ihm stand ich in einer der alten Straßenbahnen, und ein kalter Windstoß, wie er typisch ist für San Francisco, fuhr mir ins Haar. Alles war lebendig. Der rote Wagen. Die kalte Stange, an der ich mich festhielt. Der Schatten meines hellbraunen Haars. Der blaue Himmel. Der Duft des nahen Ozeans. Dann war plötzlich meine Mutter da, sie fuhr mit mir, und sie lächelte und war so glücklich, wie ich es seit ihrem Tod nicht gewesen bin. Ich erinnere mich auch nicht daran, in dem Traum glücklich gewesen zu sein. Ich erinnere mich daran, Angst gehabt zu haben, und zwar aus gutem Grund. Einen Moment später rollte die Straßenbahn hangabwärts und wollte nicht mehr anhalten. Sie raste hinab, schneller und schneller, und ich schrie. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Der Wagen sprang aus den Schienen; ich klammerte mich an die Stange und beobachtete, wie das Wasser immer näher kam. Hektisch suchte ich nach meiner Mutter, aber sie war einfach … fort. Ich war allein in dem Straßenbahnwagen, als er ins Wasser schoss.
Als Nächstes saß ich aufrecht im Bett, schrie wie verrückt und hielt mir dabei den Hals. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich brauchte, um mich zu beruhigen. Aber als ich endlich begriff, dass ich in meinem Bett war, in meiner Wohnung, roch ich trotzdem das nach Vanille und Honig duftende Parfum meiner Mutter. Es erstickte mich beinahe, erfüllte meine Sinne und den ganzen Raum. Ich schwöre, ich spürte meine Mutter im Schlafzimmer.
Sie hatte mich dazu gebracht, diesen höllischen Albtraum zu haben. Mir ist klar, dass das verrückt klingt, und ich bin nicht der Typ, der an Geistergeschichten glaubt, aber ich weiß, dass sie es getan hat. Ich verstehe nur nicht, was es bedeutet. Ich dachte, sie liebt mich – aber dann habe ich in ihren letzten Tagen so viel über sie erfahren; Dinge, von denen ich manchmal wünschte, ich wüsste sie nicht, und andere, bei denen ich froh bin, dass ich sie weiß. Nur deshalb bin ich bereit einzusehen, was dieser Albtraum mir vielleicht sagt. Möglicherweise war ich immer auf mich gestellt. Vielleicht ist das der Grund, warum mein Unterbewusstsein meine Mutter in meinen Traum gebracht und sie dann weggerissen hat.
Mittwoch, 8. Dezember 2010
Josh, der gut aussehende Banker, mit dem ich im letzten Monat zweimal ausgegangen bin, kam heute Abend in die Bar und fragte, warum ich auf seine Anrufe nicht reagiert hätte. Wie sagt man einem Mann, dass man aus purer Einsamkeit mit ihm ausgegangen ist und mit ihm geschlafen hat? Und dass der Effekt der ist, dass man sich immer noch einsam fühlt? Es war nicht so, dass der Sex schlecht war; das war er nicht. Ich habe ihn genossen. Ich hatte sogar einen Orgasmus. Das sollte doch etwas bedeuten, denn – Hand aufs Herz – wie viele erste Nächte enden mit einem Orgasmus?
Nun, vielleicht tun sie das bei einigen Leuten, aber nicht bei mir. Ich neige dazu, beim ersten Mal mit einem Mann zu viel nachzudenken. Nicht dass ich mit vielen Männern im Bett gewesen wäre. Tatsächlich ist Josh erst der dritte. Aber ich kann mir ebenso gut selbst einen Orgasmus verschaffen, und es ist viel weniger kompliziert.
Er ist wirklich ein perfekter Mann – oder wäre es in den Augen meiner Mutter gewesen. Gut aussehend, selbstständig, er liebt seine Eltern und all solch gute Sachen. Er hat Geld und weiß zu schätzen, was er besitzt, weil er es selbst erarbeitet hat. Ich kann mir nur einfach im Moment nicht vorstellen, eine Beziehung zu haben. Und vielleicht weiß ich jemanden wie ihn nicht zu schätzen oder verdiene ihn nicht, bis ich weiß, wer ich bin.
Am Ende sagte ich ihm, dass ich verrückte Arbeitszeiten hätte und ihn nächste Woche anrufen würde. Das hätte ich nicht tun sollen. Warum habe ich ihm Hoffnung gemacht? Ich weiß doch, wie sehr Hoffnung schmerzen kann.
Freitag, 10. Dezember 2010
Ich bekomme den Mann aus der Galerie nicht aus dem Kopf, aber ich dachte, zumindest die Albträume hätten aufgehört. Dann hatte ich den gleichen höllischen Traum letzte Nacht wieder, in dem gleichen Straßenbahnwagen mit meiner Mutter. Am nächsten Tag verfolgte mich der Traum bis in den Nachmittag hinein, und ausnahmsweise war ich dankbar dafür, dass Freitagabende so chaotisch sind. Dann bin ich zu
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