1283 - Der Mörder-Mönch
Sie brauchte nicht mehr, denn gerade in diesem Bereich kannte sie sich bestens aus und wusste auch über die Unebenheiten der Treppe Bescheid.
Nicht der gesamte Keller unter dem Kloster war ihr Revier, sondern nur ein Teil davon, die Bibliothek mit den alten Büchern, unter denen sich wirklich wahre Schätze befanden, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten.
Es gab nur noch wenige der frommen Frauen im Kloster. Es mangelte an Nachwuchs, die Nonnen mussten härter arbeiten, und hätte es nicht die wenigen weltlichen Helfer gegeben, dann hätten sie schon längst aufgeben müssen, doch das wollten die Menschen in den umliegenden Orten nicht, und so wurde das Kloster nach Kräften unterstützt.
Am liebsten hätte Esmeralda die Tage und auch die Nächte hier unten verbracht. Das war nicht möglich, weil es einfach noch zu viele andere Aufgaben zu erledigen gab, und so beschränkten sich die meisten Besuche auf die Nacht.
Die Nonne gehörte nicht mehr zu den jüngsten Frauen. Sie war über 60 und brauchte nur wenig Schlaf. Wenn das Ende des Lebens immer näher rückte, musste man eben die Zeit nutzen. Nach dieser Devise handelte die Frau, und sie wollte auch in dieser Nacht mindestens zwei Stunden lesen. Es gab so viele Bücher. Alle konnte sie nicht schaffen, aber die wichtigsten Themen hatte sie sich schon herausgesucht.
Ihr Interesse galt besonders der Kirchengeschichte. Sie war ungemein interessant und spannend.
Was in der Vergangenheit geschehen war, durfte einfach nicht vergessen werden. Oft genug waren diese Ereignisse und Vorgänge auch entscheidend für die Zukunft gewesen.
Am Ende der Treppe war das Licht noch weniger hell, was der Frau nichts ausmachte, denn auch hier kannte sie sich aus und fand mit zielsicherem Griff den Eisenriegel, mit dem die Tür verschlossen war.
Ein Schloss gab es nicht. Der Riegel tat es auch, und er hätte eigentlich nicht vorgeschoben werden zu müssen.
Das war er auch nicht! Die Nonne blieb stehen, als wäre sie von einer Hand gestoppt worden. Sie konnte es zunächst nicht glauben, bückte sich und schaute genauer hin, ob sie sich nicht doch geirrt hatte.
Nein, das hatte sie nicht! Der Riegel war nicht wieder vorgeschoben worden. Demnach musste sie davon ausgehen, dass die Tür nicht verschlossen war. So weit, so gut, aber auch so schlecht, denn sie stellte sich die Frage, wer den Riegel nicht wieder an die richtige Stelle geschoben hatte.
»War ich das?«, murmelte sie vor sich hin. Esmeralda steckte in einem Zwiespalt. Die Bücherei hier unten war ihr Revier, was aber nicht hieß, das nicht hin und wieder Mitschwestern sie betraten, um ebenfalls in den Büchern zu lesen oder sich das eine oder andere auszuleihen.
Es war Brauch, dass der Riegel nach dem Verlassen der Bibliothek wieder vorgeschoben wurde. Das war nicht passiert, und nach einigem Nachdenken gab sich Esmeralda die Schuld. Sie besuchte die Bücherei am häufigsten, und wahrscheinlich hatte sie wirklich vergessen, die Tür wieder zu schließen.
Man wurde eben nicht jünger, da vergaß man sogar die Routine. Mit dieser Erkenntnis konnte sie leben, doch ein ungutes Gefühl blieb trotzdem zurück, als sie die alte Holztür öffnete und dem leichten Quietschen lauschte, das ihr ebenfalls so vertraut war.
Dann betrat sie den Raum, der schon mehr einem Gewölbe glich. In all den Jahren hatte sich der Geruch nicht verändert. Nach wie vor wehte ein muffiger Atem durch die alte Bibliothek. Die Feuchtigkeit tat den alten Werken nicht gut, aber diesen Raum trockenzulegen, hätte ein Vermögen gekostet. Es wäre besser gewesen, die Bücher nach oben zu verlagern, aber das wiederum hätte Zeit und Arbeit gekostet, und für ihre Mitschwestern waren die Bücher nicht unbedingt so wichtig.
Esmeralda schaltete das Licht ein und schaute sich um. Es gab eine Lampe, die an der Decke hing und ihren Schein nach unten fließen ließ. Er breitete sich auf einem Holztisch aus, der unterhalb der Lampe stand. Zwei Stühle rahmten den Tisch ein, und auf dem Boden hatten die alten Steine eine graue Staubschicht bekommen. Nur hin und wieder putzte Esmeralda den Raum, denn so viel Zeit hatte sie auch nicht.
Die Bibliothek war ihr Revier. Hier unten fühlte sie sich wohl, hier kannte sie sich aus, hier konnte sie so wunderbar allein sein, lesen und auch ihren Gedanken nachhängen. Es war einfach eine Welt für sich, und sie hätte mit keiner anderen Person tauschen wollen. Die kleine Bücherei war ihr Leben.
In dieser Nacht
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