Meine Verfuehrung
TAGEBUCH 4, EINTRAG 1
Samstag, 4. Dezember 2010
Heute bin ich jemandem begegnet, von dem ich sofort wusste, dass er mein Leben verändern könnte. Ich habe schon gehört, dass es so etwas gibt, aber bis heute habe ich niemals etwas annähernd Vergleichbares erlebt. Und heute Abend habe ich ihn kennengelernt. Bisher kenne ich seinen Namen nicht und er nicht meinen, doch tief in mir spüre ich immer noch den Widerhall unserer kurzen Begegnung.
Ich weiß, wo ich ihn wiedertreffen kann, er jedoch hat keine Ahnung, wo er mich findet. Ich weiß auch, wie ich seinen Namen herausbekommen kann – aber ich werde es nicht tun. Es gibt zu viele gute Gründe dagegen. Ich kann mir nicht erlauben, nach ihm zu suchen, denn er wird mich garantiert auf einen Weg führen, den ich lieber nicht einschlagen sollte. Schon jetzt befürchte ich, dass meine Begegnung mit ihm etwas tief in mir aufgewühlt hat. Es ist etwas, das ich besser ruhen lassen sollte; etwas, wonach ich mich sehne. Allerdings weiß ich, dass ich nicht wagen sollte, es mir zuzugestehen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Mann nicht sein Brandzeichen auf vielen Frauen hinterlassen hat – und auf den meisten Männern ebenfalls.
Es ist, als verdränge er die Luft aus dem Raum, in dem er sich befindet. Er ist atemberaubend männlich, atemberaubend attraktiv und verströmt ungezügelte, maskuline Macht. Er verkörpert jemanden, der die Kontrolle über alles hat, was er ist und was eines Tages aus ihm werden wird. Ist es nicht das, was wir alle insgeheim wollen?
Ich würde alles darum geben, zu wissen und zu verstehen, wer ich wahrhaft bin. Und ich vermute, dass ich heute Nacht genau danach gesucht habe: nach mir. Es war mir nur nicht bewusst, bis ich ihm begegnet bin.
Die Dinge nahmen ihren Lauf, nachdem ich meine Schicht in der Bar beendet hatte. Ich beschloss, noch bei der Schokoladenfabrik vorbeizuschauen, um eine Schachtel Pralinen zu kaufen. Ich wollte feiern, dass ich allein auf der Welt stehe. Das klingt nach Suhlen in Selbstmitleid, aber es täuscht. Genau heute vor einem Jahr habe ich meine Mutter begraben, und statt mich von Trauer verzehren zu lassen, versuche ich, positiv zu denken. (Etwas, das ich seither nicht oft getan habe.) Also … das Positive dieses Tages ist, dass ich, Rebecca Mason, überlebt habe, obwohl ich sicher war, es nicht zu schaffen.
Doch irgendwie landete ich, statt direkt zu dem Schokoladengeschäft zu gehen, zwei Blocks entfernt vor der Galerie, in der ich schon immer arbeiten wollte, seit ich vor fünf Jahren mit dem College begonnen habe. Es ist einfach … passiert. Und eigentlich war das gar nicht gut. Ein Blick in die Galerie, und die Gedanken an das vergangene Jahr überwältigten mich – die Beerdigung meiner Mutter. Die Einsicht, dass mein Kunstabschluss unbrauchbar war, wenn es darum ging, Rechnungen zu bezahlen. Die Feststellung, dass ich ein Leben hatte, das ich nicht wollte. Es war höllisch, dort zu stehen und sich nach dem zu verzehren, was ich unwiederbringlich verloren habe.
Das Schlimmste daran ist: Ich ersehne meinen Traum noch immer, so sehr, dass ich mich einfach nicht zwingen konnte wegzugehen, ohne die Galerie zu betreten. Obwohl ich diese fixe Idee ein Jahr lang verdrängt hatte. Nicht einmal das abscheuliche Kellnerinnenkostüm unter meinem langen, schwarzen Ledermantel konnte mich daran hindern, hineinzugehen. Ich knöpfte ihn einfach nur zu.
Ich trat ein, meine Absätze (die Schuhe habe ich aus einem Schnäppchenladen) klapperten auf den teuren weißen Fliesen. Im Hintergrund spielte leise klassische Musik, und ich fühlte mich wie im Himmel. Ich stand einfach da, starrte die schmalen, verglasten Bilderrahmen an und seufzte innerlich. Genau hier wollte ich immer noch sein, und genau deshalb war ich wieder zur Schule gegangen. Hier zog es mich hin, seit ich als Kind versucht hatte, meinen eigenen Picasso zu erschaffen, und dabei begriffen hatte, dass ich selbst keine Künstlerin bin. Meine Gabe ist ein sicherer Blick für Kunst und eine tiefe Liebe zu ihr, die ich mit anderen teilen möchte. Wenn doch nur so etwas auch Geld einbringen würde. Wie konnte ich mir einbilden, ich könnte eine der Wenigen sein, die in einer Kunstgalerie tatsächlich ihren Lebensunterhalt verdienten?
Aber ich tat es. Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich könnte es. Als ich dachte, Träume seien dazu da, sie zu verwirklichen. Das war, bevor die Realität mich am Wickel hatte und mir die Augen öffnete.
Aber als ich
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