Meister und Margarita
sie der Besitzer in die Speisekammer. Und neun Monate später bringt sie einen gesunden Buben zur Welt. Nun, den nimmt sie halt mit in den Wald, steckt ihm das besagte Tuch ins Mäulchen und verscharrt ihn dort.« (S. 351)
Irgendwann ist der Spuk vorbei, man befindet sich wieder am heimischen Feuer, der Kater spielt Schach und leckt sich die Wunden, und Woland will wissen, wie hoch der Preis für die geleisteten Dienste ist. Spätestens hier begreift der Leser, dass er es mit weit mehr als einer Hexe, nämlich mit einer Frau zu tun hat, die tatsächlich den Mut aufbringt, dem Teufel nicht nur dienstbar zu sein, sondern mit ihm einen Pakt abzuschließen, den er in Deutschland höchstens mit einem Faust abschließen würde. Aber dieser hier will keine Bezahlung: »Nicht bitten: verlangen, meine Donna […] Sie dürfen eine Sache verlangen.« Darauf Margarita: »Ich wünsche, dass Frieda nie wieder das Tuch bekommt, mit dem sie ihr Kind erstickt hat.«
Ein Wunsch, den Woland sofort begreift, weil er, das hat auch der Leser begriffen, nicht der Teufel, sondern nur die Erfindung des Teufels ist, weit entfernt davon, wirklich böse zu sein, weil für den, der den Traum eines Meisters träumt, das Böse nichts als Rhetorik ist, die in jenes Mitleid übergeht, das sich »unerwartet und tückisch – durch die winzigsten Ritzen einzuschleichen« vermag. Wunschszenario und Erlösungsphantasie in einem und mit dem realexistierenden Stalinismus kaum zur Deckung zu bringen: »Die Tür ging auf. Nackt, zerzaust, doch ohne Anzeichen von Trunkenheit, stürzte sie ins Zimmer herein: Eine Frau mit völlig erschöpften Augen. Sie streckte die Arme nach Margarita aus, als jene majestätisch verkündete: – Du hast Gnade gefunden und sollst dein Tuch nie wieder vorgelegt bekommen.«
Erst zum Schluss wird der letzte, größte, einzige Wunsch erfüllt, die Errettung des Meisters selbst. Und mit ihm die Wiedervereinigung der beiden Liebenden, die, weil das in Opern so üblich ist, erst Gift trinken müssen, um wirklich zu leben. Daran glaube, wer will, es tut nichts zur Sache, ob der Meister und seine Muse glücklich werden, wenn sie »unter Kirschbäumen lustwandeln« und »sich abends an Schuberts Musik erfreuen«. Meine lesende Sorge gilt einem anderen, denn »fast zweitausend Jahre sitzt er hier – auf diesem Plateau – im Schlummer. Doch bei Vollmond plagt ihn, wie Sie sehen, die Schlaflosigkeit. Sie plagt nicht ihn allein, sondern auch noch seinen treuen Gefährten – den Hund. Wenn es stimmt, und das größte Laster ist die Feigheit, trifft den Hund allem Anschein nach keine Schuld. Das Einzige, wovor der sich fürchtete, waren Stürme. Nun gut – der Liebende hat das Geschick des Geliebten mitzutragen. […] Der Meister – ihm brannte es unter den Nägeln, während er dastand und regungslos den sitzenden Statthalter betrachtete. Er legte die Hände zum Sprachrohr zusammen und rief […]: – Du bist frei! Du bist frei! Er wartet auf dich!« (S. 497)
Und auf uns, seine Leser. Und darauf, dass Behemoth, sein Kater, größter Publikumsliebling von allen, am Schluss von allen Rollen befreit, seine Kostüme endlich ablegen darf und als »schmächtige[r] Jüngling, […] dämonische[r] Page, […] beste[r] Hofnarr, den die Welt je geschaut« stumm und lautlos hinter mir herfliegt, bis wir endlich den Boden berühren, auf dem keiner mehr kniet, weil keiner von uns mehr der Hofnarr sein muss. Weder in Moskau, noch in Berlin oder Wien und auch nicht in Jerusalem, wo der Ritter Pontius Pilatus sein Frühstück einnimmt, während wir uns, ohne Schnurrbart und Fell, in menschlicher Gestalt auf den Weg machen dürfen, um endlich zu landen und zu sein, wer wir sind.
Das (und nur das!) wäre die Erlösung, von der wir träumen und von der wir nicht wissen, ob wir sie jemals erlangen. Aber, Erlösung hin und her, das Spiel ist aus und zeigt uns endlich als die, die wir sind, Protagonisten und Spitzel in einem, Akteure und Schreiber gleichermaßen, nackt wie am ersten Tag, die alle von nichts anderem träumen, als endlich schlafen zu dürfen. Und davon, dass es danach wieder Morgen wird. Eine Morgendämmerung am Patriarchenteich, die immer wieder von vorn übersetzt wird, weil keiner das letzte Wort dafür findet.
Die Autorin des Nachworts:
Felicitas Hoppe wurde 1960 in Hameln geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u. a. "Pigafetta" (1999), "Paradiese Übersee" (2003), "Johanna"
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