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Meister und Margarita

Meister und Margarita

Titel: Meister und Margarita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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Dimension von allen, in der niemand von uns zu Hause ist, in Moskau so wenig wie in Wien und Berlin. Wer würde ihn nicht sofort erkennen, jenen Beamten, der, kopf- und körperlos, nichts als sein leerer Anzug, an seinem Schreibtisch mit einer Macht telefoniert, die keiner kennt. Und weltweit keine Sekretärin, die nicht den Schrecken einer gewissen Anna Richardowna teilte: »Zum Verrücktwerden! Und telefoniert! Ein Anzug!« (S. 252) Wie spezifisch auch jeweils Kostüm und Kulisse sind, der Effekt zielt immer aufs Große und Ganze und verfehlt seine Wirkung auch auf den ahnungslosesten Leser nicht.
    Das ist nicht verharmlosend gemeint. Selbstverständlich liest mehr (oder jedenfalls anders), wer mehr weiß. Die meisten Motive im »Meister« lassen sich zeit- oder literaturgeschichtlich zuordnen und als konkrete Hinweise auf eine reale Zeit- und Ortsgeschichte lesen, auf den Höhepunkt des stalinistischen Terrors, der in seiner Grausamkeit womöglich nur literarisch verschlüsselt kommentierbar ist und den auch siebzig Jahre später nur naive Leser für längst überwunden halten, um nicht zu sagen, für pittoresk, für ein russisches »Es war einmal«. Ein Stoff für Geschichten, die, frei nach Gogol und Charms, immer noch gerne hört, wer im Warmen sitzt und sich zu den westwärts Geretteten zählt, die aus sicherer Distanz heraus lesen, was anderen widerfährt:Schlange stehen, in Gemeinschaftswohnungen hausen, Devisen schachern, bespitzelt und abgeholt, verhaftet, verhört, gefoltert werden, seine Nase verlieren, kopflos werden und für immer in einem Nichts verschwinden, das sich in seinen Facetten des Schreckens literarisch nicht beschreiben noch einholen, sondern bestenfalls künstlerisch bannen lässt. Denn wir haben es mit einer Fülle ungeheuerlicher Fakten zu tun, die, alles andere als ein historisches Museum, nur in Annäherungen darstellbar sind (begreifbar schon gar nicht) und die auch der selbst höchst verwickelte Zeitzeuge Bulgakow nur durch ein Kunststück bewältigen konnte, um dem real existierenden Irrsinn eine eigene Ordnung zu geben. Ein kühner Versuch der Selbstbehauptung, der Überwindung von Angst und Schrecken.
    Herausgekommen ist dabei ein Kunstwerk, hinter dem, wie der Historiker Karl Schlögel meint, die Geschichtsschreibung mit ihren Mitteln auf umgekehrte Weise weit zurück bleibt, denn »der ›magische Realismus‹ Bulgakows öffnet den Raum für Beschreibungsmöglichkeiten, die den Geschichtswissenschaften weitgehend verwehrt sind: eine Geschichte der Verwirrung und Auflösung alles Festen, ein Raum des Phantastischen, das keineswegs irreal oder surreal ist – des Realphantastischen. […] Das wundersame Auftauchen und Verschwinden von Personen, zauberhafte Verwandlungen von Menschen und Tieren, die Fortbewegung in übernatürlicher Geschwindigkeit, die Unverwundbarkeit durch Waffen und Verfolgung, die Verwandlung von Wasser und Wein, von bekleideten in nackte Bürgerinnen, von gewöhnlichen Bürgern in Betrüger und Denunzianten, von Lebenden in Tote.« (Schlögel, »Terror und Traum«, S. 35)
    Übrigens, sei ergänzt, auch von Toten in Lebende. Sind wir womöglich im Märchen gelandet? In jener Welt, in der Gut und Böse noch am angestammten Platz sitzen, in einem Fluchtraum zwischen Himmel und Hölle, in dem es noch eine Gerechtigkeit gibt, wo die Liebe den lieben Gott besticht, indem sie Tod und Teufel besiegt, wo Tiere sprechen und Wünsche noch in Erfüllung gehen? (Auch wenn für den, der kein Zauberwort kennt, sondern nur Not und Gier, sich das Gewünschte schnell wieder in Luft auflöst.) Ist Bulgakow womöglich ein Idyllenautor, der sich, so unheimlich wie romantisch, anmaßt, den endlosen Terror mit den lachhaft endlichen Mitteln von Groteske und Slapstick zu bekämpfen, um (klassische Selbstüberschätzung des Künstlers) seine Toten, nach Belieben des Meisters, wieder auferstehen zu lassen wieein Magier seine zersägte Jungfrau? Ist der Meister am Ende ein Eskapist, ein esoterischer Flüchtling und Fabulierer, ein Science-Fiction-Autor ohne psychologische Tiefenschärfe, der anstelle von ernsthaften Charakteren nur ein überdimensionales Kaspertheater erschafft, in dem er, mit Effekten jonglierend, gegen die Welt und das wirkliche Leben andere Dimensionen beschwört und naiv (um nicht zu sagen kitschig) die ewige Kunst und die Liebe besingt?
    Das tut er tatsächlich und bringt damit eine Welt in Ordnung, die faktisch längst aus den Fugen ist: »Oh, dreifach

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