Meister und Margarita
mystifizierende Schicht. »Vor allem«, schrieb er, »frage ich mich, was es mit diesem ›Pilatentum‹ auf sich hat, merkwürdig historisierende in die Haupthandlung eingeschobene Zwischenkapitel, in denen ein gewisser Jeschua auftritt. Aber das finde ich noch heraus.«
»Lieber Jan«, schrieb ich zurück, »ich lese gerade dasselbe wie du (bloß in anderer Übersetzung) und schwimme, genau wie vor dreißig Jahren, als ich das Buch zum ersten Mal las (staunend und ohne jeden Auftrag), wie ein Fisch im Wasser des Textes, nur dass sich (Alter, Experten und Übersetzern geschuldet) beim zweiten, dritten und vierten Lesen die Bedeutungen hier und da leise verschieben, die Konturen treten klarer hervor, die Stärken ebenso wie die Schwächen. Vor allem hat sich durch die wiederholte Lektüre meine kindische Furcht, in der wirklichen wie der erfundenen Welt alles andauernd falsch zu verstehen, auf angenehme Weise verflüchtigt, von metaphysischen Lasten keine Rede. Unverändert geblieben ist, jenseits aller Deutungsversuche, mein Lesevergnügen, das ich so unbekümmert wie damals gern marktschreierisch an die Rampe schiebe: Leser, mir nach! Gib nicht auf!«
Wer nicht aufgibt, wird belohnt, ist aber nicht am Ende, sondern wieder am Anfang, weil Meisterschlüsse es in sich haben und an sich, nur vorläufig Enden zu sein, denen sich nur der Ordnung halber anschließt, was der Volksmund ein »Nachwort« nennt. Die Geschichte und ihre Dimensionen, Passions- und Erlösungsgeschichte, Liebes- und Künstlerroman in einem, gehen über jedes Nachwort hinaus und wandern weiter in den Köpfen der Leser, egal, auf wessen Seite sie sind. Michail Bulgakows »Meister und Margarita« (geschrieben zwischen 1929 und 1940, erschienen postum erst sechsundzwanzig Jahre später) lässt viele Lesarten zu, wie nicht nur die Lektüre selbst beweist, sondern (nur ein Verstärker der Sache selbst) auch die Existenz unzähliger Übersetzungen weltweit, obenauf Vor-, Nach- und Nebenworte, wissenschaftliche Auslassungen, Einreden, Kommentare und Publikationen, theatralische und musikalische Adaptionen und Verfilmungen, zu schweigen von gewissen Kneipen und Restaurants, die sich nicht nur mit den Namen Bulgakows und seiner Protagonisten, sondern im Nebengewerbe auch mit Deutungshoheiten schmücken, weil sie alle angeblich genau wissen, wem ihr »Meister« gehört, nicht zu reden von einer unübersehbaren Fülle an Leserkommentaren in wirklichen und virtuellen Welten, die allesamt davon Zeugnis ablegen, dass Bulgakows »Meister« lebendig ist und dass ihn sein Publikum nach wie vor liebt und verehrt. Bulgakow ist, Himmelsrichtung egal, einfach Kult: »Vorsicht – Suchtgefahr!«, »Großer Streich!«, »Werde es wieder und wieder lesen!«, »Hat nicht seinesgleichen!«, um nur vier unter Tausenden zu nennen.
Woher die Verehrung? Worin besteht diese Liebe? Womöglich in Bulgakows Personal. Bulgakow hat Figuren erfunden, die, gleich, ob er sie mag oder nicht, kein Leser vergisst. Figuren, die man sich trauen muss, erst recht, wenn sie nicht der Phantasie entspringen, sondern wenn man ihre Bekanntschaft persönlich gemacht hat, zum Beispiel im Moskau der dreißiger Jahre des kaum vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts. Dass sie, jenseits davon, auch begreifen kann, wer selber niemals in Moskau war, schon gar nicht im Moskau der dreißiger Jahre, hat mit der Kraft ihres Schöpfers zu tun, mit der einfachen Tatsache, dass sie auf der ganzen Welt zuhause sind und für den, der Augen und Ohren hat, überall anzutreffen: Woland, Magier und Teufel leibhaftig, der das Böse bemüht, um Gutes zu schaffen, sein karierter Gehilfe Korowjew (auch Fagot genannt) und Azazello, Salbenschmierer und Frauenverjüngerer (häufig auch in Berlin unterwegs), allen voran aber Behemoth, unangefochtener Publikumsliebling, ungestiefelter Kater auf zwei Beinen, Mensch und Ungeheuer in einem (Mundschenk und Kellermeister der Hölle), der lässig auf Straßenbahnen springt, mit Tierpfoten Fahrkarten löst, verwirrte Schaffnerinnen auf den Plan ruft und bei Bedarf im Handumdrehen Menschenköpfe nicht nur abreißt, sondern ebenso leichthändig auch wieder aufschraubt. Und, rhetorisch unschlagbar verschlagen, mit menschlicher Stimme verkündet: »Ich habe den Schnurrbart gepudert, mehr nicht!« S. 335)
Die vermeintlich phantastische Ebene ist nur die Oberfläche, der glatte Spiegel dessen, was wir unbedarft »Alltag« nennen, das einfache unverständliche Leben, die tückischste
Weitere Kostenlose Bücher