Meistererzählungen
aus-einanderliefen, sah das lange Dach meines Vaterhauses.
Dort war meines Vaters Schlaf zimmer und die Schublade, in der die Feigen fehlten. Dort war mein kleines Zimmer. Dort würde, wenn ich zurückkam, das Gericht mich treff en. – Aber wenn ich nicht zurückkam?
Ich wußte, daß ich zurückkommen würde. Man kam
immer zurück, jedesmal. Es endete immer so. Man 301
konnte nicht fort, man konnte nicht nach Afrika fl iehen oder nach Berlin. Man war klein, man hatte kein Geld, niemand half einem. Ja, wenn alle Kinder sich zusammentäten und einander hülfen! Nie waren viele, es gab mehr Kinder als Eltern. Aber nicht alle Kinder waren Diebe und Verbrecher. Wenige waren so wie ich.
Vielleicht war ich der einzige. Aber nein, ich wußte, es kamen öfters solche Sachen vor wie meine – ein Onkel von mir hatte als Kind auch gestohlen und viel Sachen angestellt, dashatte ich irgendwann einmal erlauscht, heimlich aus ei nem Gespräch der Eltern, heimlich, wie man alles Wissens werte erlauschen mußte. Doch das alles half mir nicht, und wenn jener Onkel selber da wäre, er würde mir auch nicht helfen! Er war jetzt längst groß und erwachsen, er war Pa stor, und er würde zu den Erwachsenen halten und mich im Stich lassen. So waren sie alle. Gegen uns Kinder waren sie alle falsch und verlogen, spielten eine Rolle, gaben sich an ders, als sie waren. Die Mutter vielleicht nicht, oder weniger. Ja, wenn ich nun nicht mehr heimkehren würde? Es könnte ja etwas passieren, ich konnte den Hals brechen oder ertrinken oder unter die Eisenbahn kommen. Dann sah alles anders aus. Dann brachte man mich nach Hause, und alles war still und erschrocken und weinte, und ich tat allen leid, und von den Feigen war nicht mehr die Rede. Ich wußte sehr gut, daß man sich selber das Leben nehmen konnte. Ich dachte auch, daß ich das wohl einmal tun würde, später, wenn es einmal ganz schlimm 302
kam. Gut wäre es gewesen, krank zu werden, aber nicht bloß so mit Husten, sondern richtig todkrank, so wie damals, als ich Scharlachfi eber hatte.
Inzwischen war die Turnstunde längst vorüber, und auch die Zeit war vorüber, wo man mich zu Hause zum Kaff ee er wartete. Vielleicht riefen und suchten sie jetzt nach mir, in meinem Zimmer, im Garten und Hof, auf dem Estrich. Wenn aber der Vater meinen Diebstahl schon entdeckt hatte, dann wurde nicht gesucht, dann wußte er Bescheid.
Es war mir nicht möglich, länger liegenzubleiben.
Das Schicksal vergaß mich nicht, es war hinter mir her.
Ich nahm das Laufen wieder auf. Ich kam an einer Bank in den Anla gen vorüber, an der hing wieder eine Erinnerung, wieder eine, die einst schön und lieb gewesen war und jetzt wie Feuer brannte. Mein Vater hatte mir ein Taschenmesser ge schenkt, wir waren zusammen spazierengegangen, froh und in gutem Frieden, und er hatte sich auf diese Bank gesetzt, während ich im Ge-büsch mir eine lange Haselrute schneiden wollte. Und da brach ich im Eifer das neue Messer ab, die Klinge dicht am Heft, und kam entsetzt zurück, wollte es erst verheimlichen, wurde aber gleich danach gefragt. Ich war sehr unglücklich, wegen des Messers und weil ich Schelt worte erwartete. Aber da hatte mein Vater nur gelächelt, mir leicht die Schulter berührt und gesagt:
»Wie schade, du ar mer Kerl!« Wie hatte ich ihn da geliebt, wieviel ihm innerlich abgebeten! Und jetzt, wenn 303
ich an das damalige Gesicht mei nes Vaters dachte, an seine Stimme, an sein Mitleid – was war ich für ein Ungeheuer, daß ich diesen Vater so oft betrübt, belogen und heut bestohlen hatte!
Als ich wieder in die Stadt kam, bei der oberen Brük-ke und weit von unserm Hause, hatte die Dämmerung schon begon nen. Aus einem Kaufl aden, hinter dessen Glastür schon Licht brannte, kam ein Knabe gelaufen, der blieb plötzlich stehen und rief mich mit Namen an.
Es war Oskar Weber. Niemand konnte mir ungelegener kommen. Immerhin erfuhr ich von ihm, daß der Lehrer mein Fehlen in der Turnstunde nicht be merkt habe.
Aber wo ich denn gewesen sei?
»Ach nirgends«, sagte ich, »ich war nicht recht wohl.«
Ich war schweigsam und zurückweisend, und nach
einer Weile, die ich empörend lang fand, merkte er, daß er mir lä stig sei. Jetzt wurde er böse.
»Laß mich in Ruhe«, sagte ich kalt, »ich kann allein heim gehen.«
»So?« rief er jetzt. »Ich kann geradesogut allein gehen wie du, dummer Fratz! Ich bin nicht dein Pudel, daß du’s weißt. Aber vorher möchte ich doch wissen, wie das jetzt eigentlich
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