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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Arme zittern, tastete nach einer Haus-wand.

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    Und da war unser Haus. Gott sei Dank! Ich wußte nichts auf der Welt mehr, als daß dort Zufl ucht war, Friede, Licht, Geborgenheit. Aufatmend schob ich das hohe Tor zurück.
    Da mit dem Duft von Stein und feuchter Kühle überströmte mich plötzlich Erinnerung, hundertfach. O
    Gott! Es roch nach Strenge, nach Gesetz, nach Verantwortung, nach Vater und Gott. Ich hatte gestohlen. Ich war kein verwunde ter Held, der vom Kampfe heimkehrte. Ich war kein armes Kind, das nach Hause fi ndet und von der Mutter in Wärme und Mitleid gebettet wird.
    Ich war Dieb, ich war Verbrecher. Da droben waren nicht Zufl ucht, Bett und Schlaf für mich, nicht Essen und Pfl ege, nicht Trost und Vergessen. Auf mich wartete Schuld und Gericht.
    Damals in dem fi nstern abendlichen Flur und im Treppen haus, dessen viele Stufen ich unter Mühen er-klomm, atmete ich, wie ich glaube, zum erstenmal in meinem Leben für Au genblicke den kalten Äther, die Einsamkeit, das Schicksal. Ichsah keinen Ausweg, ich hatte keine Pläne, auch keine Angst, nichts als das kalte, rauhe Gefühl: ›Es muß sein.‹ Am Geländer zog ich mich die Treppe hinauf. Vor der Glastür fühlte ich Lust, noch einen Augenblick mich auf die Treppe zu setzen, aufzu-atmen, Ruhe zu haben. Ich tat es nicht, es hatte keinen Zweck. Ich mußte hinein. Beim Öff nen der Tür fi elmir ein, wie spät es wohl sei?
    Ich trat ins Eßzimmer. Da saßen sie um den Tisch und 308
    hatten eben gegessen, ein Teller mit Äpfeln stand noch da. Es war gegen acht Uhr. Nie war ich ohne Erlaubnis so spät heimgekommen, nie hatte ich beim Abendessen gefehlt.
    »Gott sei Dank, da bist du!« rief meine Mutter lebhaft.
    Ich sah, sie war in Sorge um mich gewesen. Sie lief auf mich zu und blieb erschrocken stehen, als sie mein Gesicht und die beschmutzten und zerrissenen Kleider sah.
    Ich sagte nichts und blickte niemanden an, doch spür-te ich deutlich, daß Va ter und Mutter sich mit Blicken meinetwegen verständigten. Mein Vater schwieg und beherrschte sich; ich fühlte, wie zornig er war. Die Mutter nahm sich meiner an, Gesicht und Hände wurden mir gewaschen, Pfl aster aufgeklebt, dann be kam ich zu essen. Mitleid und Sorgfalt umgaben mich, ich saß still und tief beschämt, fühlte die Wärme und genoß sie mit schlechtem Gewissen. Dann ward ich zu Bett geschickt.
    Dem Vater gab ich die Hand, ohne ihn anzusehen.
    Als ich schon im Bette lag, kam die Mutter noch zu mir. Sie nahm meine Kleider vom Stuhl und legte mir andere hin, denn morgen war Sonntag. Dann fi ng sie be-hutsam zu fra gen an, und ich mußte von meiner Raufe-rei erzählen. Sie fand es zwar schlimm, schalt aber nicht und schien ein wenig verwundert, daß ich dieser Sache wegen so sehr gedrückt und scheu war. Dann ging sie.
    Und nun, dachte ich, war sie überzeugt, daß alles gut sei. Ich hatte Händel ausgefochten und war blutigge-hauen wor den, aber das würde morgen vergessen sein.

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    Von dem an dern, dem Eigentlichen, wußte sie nichts.
    Sie war betrübt ge wesen, aber unbefangen und zärtlich.
    Auch der Vater wußte also vermutlich noch nichts.
    Und nun überkam mich ein furchtbares Gefühl von Ent täuschung. Ich merkte jetzt, daß ich seit dem Augenblick, wo ich unser Haus betreten hatte, ganz und gar von einem einzi gen, sehnlichen, verzehrenden Wunsch erfüllt gewesen war. Ich hatte nichts anderes gedacht, gewünscht, ersehnt, als daß das Gewitter nun ausbrechen möge, daß das Gericht über mich ergehe, daß das Furchtbare zur Wirklichkeit werde und die entsetzliche Angst davor aufhöre. Ich war auf alles ge faßt, zu allem bereit gewesen. Mochte ich schwer gestraft, geschlagen und eingesperrt werden! Mochte er mich hun gern lassen! Mochte er mich verfl uchen und verstoßen! Wenn nur die Angst und Spannung ein Ende nahmen!
    Statt dessen lag ich nun da, hatte noch Liebe und Pfl ege genossen, war freundlich geschont und für meine Unarten nicht zur Rechenschaft gezogen worden und konnte aufs neue warten und bangen. Sie hatten mir die zerrissenen Klei der, das lange Fortbleiben, das versäumte Abendessen vergeben, weil ich müde war und blutete und ihnen leid tat, vor al lem aber, weil sie das andere nicht ahnten, weil sie nur von meinen Unarten, nichts von meinem Verbrechen wußten. Es würde mir doppelt schlimm gehen, wenn es ans Licht kam! Vielleicht schickte man mich, wie man früher einmal ge-droht hatte, in eine Besserungsanstalt, wo man altes, 310
    hartes Brot es sen und

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