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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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wieder, dann ging sie aufrechten Ganges die Treppe hinunter. Erst als sie den Turm verlassen hatte, schossen neue Tränen in ihre Augen, und sie sank verzweifelt auf die Knie.

    Gunnora starrte den Mann an, der ihre Eltern ermordet hatte, und fühlte nichts. Sie fühlte keine Angst vor dem Tod, keine Trauer ob des Verlustes, keine Sorge um die Schwestern, keine Wehmut ob der Erinnerungen an ihr viel zu kurzes Leben. Sie fühlte nichts, weil sie es so wollte.
    Ihr Blick fiel auf das Kreuz auf seiner Brust, dunkel, vom Blut getränkt, und eine Rune kam ihr in den Sinn, die sie diesem Kreuz entgegenhalten wollte.
    Isa.
    Die Rune, die Eis bedeutete. Sie stand für Stille und Kälte, für Innehalten und Warten – und wenn man sie nutzte, um jemanden zu verfluchen, so vermochte sie die Wirkung aller anderen Runen zu schwächen, Schwerter stumpf zu machen und Gefühle zu töten.
    Und genau das war es, was sie wollte. Sie konnte nichts gegen ihren Mörder tun, ihm nicht in den Arm fallen, wenn er seine Waffe gegen sie richtete, sich seinem Griff nicht entwinden, wenn er sie packte. Aber sie konnte ihm zuvorkommen, konnte ihr Innerstes töten, ehe er es tat, und ihm nichts als eine leblose Hülle hinterlassen. Das Eis, zu dem sie wurde, glitzerte nicht in der Sonne, es lud dazu ein, mit Tierknochen unter dem Schuhwerk darauf zu tanzen, wie sie es manchmal im Winter getan hatten. Es ließ vielmehr alles erstarren, was sich zu schnell bewegte, und wer seiner Kälte mit Lebendigkeit trotzte, riskierte, darin einzubrechen und vom winterlich schlafenden Wasser verschlungen zu werden.
    Der Mann zögerte. Anstatt auf sie loszugehen, schien er sichtlich verstört, dass sie nicht wie die Beute vor dem Jäger zu fliehen versuchte, sondern ihm trotzte. Erst jetzt bemerkte sie, dass er allein war, dass er die anderen Männer fortgeschickt hatte, wohl weniger aus Scheu, vor Zeugen zu töten, sondern vielmehr, damit diese ihre Schwestern suchen konnten.
    Nun bekam ihre Beherrschung doch Sprünge – und seine Ausdruckslosigkeit nicht minder. Er lächelte, als er ihre Angst witterte. So musste eine Spinne lächeln, die nach dem Leben der Opfer lechzte und es bis zum letzten Tropfen aus ihm herauszusaugen gedachte.
    Gunnora ballte ihre Hände zu Fäusten.
    Mein Blut kriegst du nicht, nur Wasser, farblos und kalt wie das Eis. Du weißt nicht, wie ich heiße, darum tötest du nicht mich, nur eine namenlose Frau, eine von vielen.
    Noch zögerte er, noch tötete er sie nicht.
    Er pirschte sich mit den lautlosen Schritten eines Raubtiers an sie heran, angespannt, lauernd … gierig.
    Beinahe hatte er sie erreicht, als sie verspätet begriff, was er wollte – sie nicht nur einfach ausschalten, sondern daran Vergnügen finden. Und mit dem vom Schwert gebrachten und darum schnellen Tod war das nicht zu erreichen. Bevor sie starb, würde er sie schänden, würde sie schreien lassen, würde sie verletzen.
    Wieder entglitten ihr die Züge. Ja, Eis war kalt und hart, aber Eis konnte brechen. Es war kein schöner Tod, frierend zu ertrinken, auch kein heldenhafter. Und plötzlich schien es ihr ebenso wenig heldenhaft, dass sie nichts fühlte, dass sie nicht zu fliehen versuchte, dass sie nicht gegen ihn kämpfte, sondern ihn nur wie erstarrt musterte. Dieser Gleichmut einer Greisin war ein ergrautes, faltiges, schlaffes Gefühl -keines, mit dem sie sterben wollte.
    Er trat näher, hob seine Hand, berührte ihr Gesicht, das Eis schmolz.
    Sie schrie, schrie um Hilfe, schrie, dass ihn die Götter verfluchen sollten, hoffte nicht darauf, dass jemand den Schrei hörte, und noch weniger, dass die Götter es ihm tatsächlich heimzahlten, aber sie schrie dennoch weiter. Nein, nicht lautlos wollte sie auf der Straße nach Hel den Eltern folgen, sie wollte Spuren im Waldboden hinterlassen, wollte, dass die Kratzer in ihrem Gesicht nicht von seinen Händen rührten, sondern von den Ranken, die ihr auf der Flucht ins Gesicht schlugen.
    Auf dieser Flucht kam sie nicht weit. So abrupt hatte sie sich umgedreht und war losgerannt, dass er zwar zunächst ins Leere griff, als er sie zu packen versuchte, doch alsbald hörte sie seine Schritte, die ihr folgten. Sie hörte auch seinen Atem, heiß und lüstern, hörte ein Klappern, als das hölzerne Kreuz gegen sein eisernes Wams schlug.
    Gleich würde sie erneut seine Hände fühlen. Gleich würde er sich nicht mehr damit begnügen, über ihr Gesicht zu streichen.
    Sie stolperte, fiel zu Boden, mit dem Gesicht voran,

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