Meisterin der Runen
schmeckte feuchte Erde. Als sie sich umdrehte, aufrichtete und die Erdeausspuckte, stand der Mörder ihrer Eltern nicht über sie gebeugt, wie sie erwartet hatte, sondern lag selbst dahingestreckt auf dem Boden.
»Los, weg von hier, schnell!«
Gunnora hörte die fremde Stimme, konnte aber nicht einordnen, aus welcher Richtung sie kam. Etwas lief ihr feucht über die Wangen, doch es waren nur Tränen, kein Blut.
Ich blute nicht, hämmerte es in ihrem Kopf. Schmutzig will ich gern sein, nur nicht geschändet, nur nicht tot …
»Komm mit!«
Er sprach Fränkisch – eine Sprache, die sie von ihrem Vater gelernt hatte. Ein Mann, der mit Pferden handelte, musste möglichst viele Sprachen beherrschen, und als der Entschluss gefallen war, Dänemark zu verlassen, hatte Walram auch von seinen Töchtern gefordert, des Fränkischen kundig zu werden.
Blätter raschelten, und nun sah sie hinter den Bäumen den Mann, der zu ihr gesprochen hatte. Er war kleiner und gedrungener als der Angreifer, trug ein Hemd aus grobem Wollstoff, leinene Hosen und einen weißen Rock darüber. Die Beine waren mit breiten Lederbändern umschnürt, die Füße steckten in plumpen Schuhen. In seinem Gürtel trug er ein kleines Messer, um seine Schultern lag ein Fell aus Fischotter, das speckig wirkte. Er war offenbar nicht reich, besaß weder Schwert noch Pferd. Er war kein Krieger, kein Mörder.
»Wer bist du?«, fragte sie heiser.
Er packte sie am Arm und zog sie mit sich, gab jedoch keine Antwort.
»Wie hast du ihn zu Fall gebracht?«
Dieses Mal bekam sie eine Antwort, doch nicht von ihm. »Das hat doch nicht er gemacht, sondern ich. Ich habe mit einem Ast auf seinen Kopf geschlagen.«
Sie fuhr herum und erblickte Seinfreda, nicht weiß und blass und hellblond, sondern braun von der Erde wie sie. Die beiden kleinen Schwestern klammerten sich an ihren Rock.
»Warum bist du zurückgekommen?«, schimpfte Gunnora. »Ich habe dir doch gesagt, dass ihr euch in Sicherheit bringen sollt!«
»Wenn wir das getan hätten, wärest du nun tot. Wir haben Samo gefunden, er war nicht nur bereit, mit uns nach dir zu suchen, sondern will uns auch weiterhin helfen.«
Der Fremde, der Fränkisch sprach, hieß also Samo.
»Beeilt euch!«, rief er.
Viele Fragen lagen auf Gunnoras Lippen, aber als ihr Blick auf den reglosen Christen fiel, sah sie ein, dass diese warten mussten. Rasch nahm sie Duvelina auf den Arm und eilte den anderen nach.
»Wohnen nicht Wölfe und Bären im Wald?«, fragte Wevia bange. »Ich habe Angst vor ihnen!«
Wie kann sie am heutigen Tag nicht gelernt haben, dass tödlicher als Klauen und Zähne Schwerter sind?, fragte Gunnora sich stumm.
»Im Wald lebt vor allem Samo«, tröstete Seinfreda sie, »und er hat uns gerettet.«
Gunnora blickte sich um. Der Leib des Christen war nicht länger zu sehen, aber es war zu früh, aufzuatmen. Womöglich war er vom Ast nicht tödlich getroffen worden, sondern nur in Ohnmacht gefallen, würde ihnen, sobald er daraus erwachte, wieder auf der Spur sein und sie womöglich bald einholen.
Gleiches schien auch diesem Samo durch den Kopf zu gehen. »Schneller!«, rief er heiser und hetzte sie durch den Wald.
Seinfreda schien dem Fremden zu vertrauen – Gunnora folgte ihm zwar, vertraute ihm aber nicht. In seinem Gesicht las sie nichts, was auf Freundlichkeit und Mitgefühl schließen ließ, nur Einfalt und eine Spur Misstrauen, und das war zu wenig, ihm die Verantwortung für die Schwestern zu überlassen. Vielleicht tat sie ihm Unrecht, vielleicht war er ein guter Mann, aber sie konnte es nicht sehen, weil ihr Herz nach den Schrecken dieses Tages blind geworden war.
Sie rannten und rannten, stiegen über Wurzeln, duckten sich unter Ästen, blieben einmal schnaufend stehen. Nicht länger blickte Gunnora auf den Weg vor ihren Füßen, sondern gen Himmel, dessen Blau durchs Geäst schimmerte.
Ich möchte sein wie du, Sonne, dachte sie. Du hast zu viele Gräuel mit deinem strahlenden Licht erhellt, als dich über ein einzelnes zu grämen, und in deiner Hitze trocknen die Tränen, ehe sie fließen.
Ich möchte sein wie du, Mond. Die Nacht ist die Schwester des Schweigens, und worüber man nicht redet, darüber breitet sich der Schleier des Vergessens, dunkel und schwer wie der Schlaf.
Ich möchte sein wie ihr, Sterne. Die Finsternis umgibt euch, aber sie frisst euch nicht auf; erst das Morgenlicht fegt euch vom Himmel, doch selbst dem trotzt ihr noch, indem ihr es mit euren Strahlen zerschneidet
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