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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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und die frühe Sonne blutrot färbt.
    Sie wusste, ihre Sehnsucht würde sich nicht erfüllen. Sie konnte nicht gen Himmel fliehen, sie war auf die Erde verbannt. Und auf dieser Erde würde sie nie vergessen, was an diesem Tag geschehen war, würde nie aufhören, daran zu leiden, würde ihr Herz immer bluten vor Gram.

 
F ÉCAMP
996
    Agnes fröstelte immer mehr. Warum war sie bloß nicht beim sterbenden Grafen geblieben, warum hatte sie sich nicht weiter gelangweilt, warum nicht auf den Tod gewartet? Seine Fratze war gewiss nicht so verstörend wie das Geheimnis, von dem die beiden Mönche sprachen.
    Das Geheimnis der Gräfin, in Schriften festgehalten. Das Geheimnis, das die Zukunft der Normandie bedrohte.
    Unmöglich, dass es die Normandie nicht mehr gab!
    Agnes kannte keine andere Heimat, kein anderes Leben. Gewiss, man hatte ihr von klein auf eingebläut, dass der Friede, der nun herrschte, ein mühsam errungener war, und dass in der Vergangenheit die Macht des Grafen oft bedroht gewesen war. Er hatte viele Widersacher gehabt, doch er hatte sie alle überlebt, und sein Sohn war ein würdiger Erbe.
    Nun gut, die Welt blieb dennoch ein gefährlicher Ort, ihr Großvater, der einige Jahre zuvor gestorben war, hatte manchmal davon gesprochen – von Hungersnöten, Kriegen und Raubzügen. Aber all das hatte eher wie ein schauriges Märchen geklungen, und der Grusel, den es bedingte, verursachte ein wohliges, kein unerträgliches Gefühl. Manchmal hatte sie über diese Geschichten sogar lachen müssen. Ihr Großvater war nun mal alt gewesen, und alte Leute waren immer ein wenig misstrauisch und runzelten häufig ihre Stirn.
    Bruder Remi war noch nicht alt und wirkte dennoch argwöhnisch, vor allem aber bösartig. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass das Kloster in Cluny, in dem er gelebt hatte, ehe er ein Mönch vom Mont-Saint-Michel wurde, von Sarazenen überfallen worden war. Der Abt war sogar von ihnen gefangen genommen worden, und die Mönche hatten im ganzen Reich betteln müssen, um das Lösegeld für ihn zusammenzubringen. Ob Bruder Remi selbst einem dieser Furcht erregenden Heiden, deren Gesichter, wie man munkelte, so schwarz wie ihre Seelen waren, gegenübergestanden hatte? Und was geschah wohl mit den Seelen, wenn sie in der Hölle brannten, da es doch nichts gab, was noch dunkler war als dieses Schwarz?
    Agnes schüttelte den Kopf, um die Gedanken daran zu vertreiben. Von den Sarazenen drohte hier in Fécamp keine Gefahr, umso mehr hingegen von den beiden Mönchen, die eben ihren Platz verließen.
    Tatsächlich! Sie kehrten nicht etwa ins Sterbezimmer zurück, sondern stiegen – an anderen Mönchen und den Wachen vorbei – die Treppe hoch. Agnes folgte ihnen lautlos. Sie war kaum überrascht, als die beiden Mönche wenig später das Gemach der Gräfin erreichten, sich noch einmal umblickten, es dann aber betraten.
    Wie konnten sie es nur wagen! Agnes war zwar selbst oft hier gewesen, denn die Gräfin war eine enge Freundin ihrer Mutter und für sie darum wie eine Tante. Dennoch hätte sie nie gewagt, die Kemenate allein zu betreten, sie konnte es kaum fassen, dass die beiden Mönche keinerlei Scheu kannten.
    Während Agnes auf der Schwelle verharrte, schritten sie forsch in die Mitte des Raumes, der auf den ersten Blick sehr schlicht wirkte, jedoch mit vielen edlen Details versehen war. Die mit Steinen ausgekleidete Feuerstelle hatte einen eigenen Rauchabzug. Davor befand sich eine große Platte aus dünn gehämmertem Eisen, die den hölzernen Boden vor Funken schützte. Die Fenster waren mit dicken Stoffstücken zugehängt, in einer Ecke stand ein Kohlebecken aus Bronze, so kunstvoll gearbeitet, wie es nur Handwerker aus einem Land weit im Osten zustande brachten. Öllampen hingen von der Decke, sie berührten beinahe die Köpfe der beiden Gottesmänner, die nun den großen Tisch aus Eichenbohlen betrachteten oder vielmehr das, was darauf lag: Pergament, Bücher und Schreibgerät. Was immer sie suchten – sie wurden nicht fündig, gingen darum an den aus gedrechselten Hölzern gefertigten Stühlen vorbei zu den Truhen im hinteren Raum. Die größeren, die wohl Kleidung beinhalteten, weckten ihr Interesse nicht – eine kleine mit Intarsien aus Elfenbein hingegen umso mehr.
    Bruder Remi öffnete sie zielstrebig und zog mehrere Rollen hervor.
    »Und?«, fragte Bruder Ouen aufgeregt.
    Remi ließ nicht erkennen, ob er in Händen hielt, wonach er suchte.
    »Ist es dieses … Dokument?«, fragte Bruder Ouen

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