Melina und das Geheimnis aus Stein
auf Wills Bein gelegt und er schlägt die Augen auf. Ich muss mich letztes Mal getäuscht haben – sie sind nicht weiß, diese Augen. Nein, sie haben ein ganz helles Blau, wie der Himmel an manchen Tagen im Frühling. Dabei ist jetzt fast Herbst.
„Hallo, Will“, sage ich.
„Hallo, Will“, wiederholt er wie ein Echo.
„Nein“, widerspreche ich. „Du musst sagen: ‚Hallo, Melina.‘ So heiße ich nämlich, erinnerst du dich?“
„Hallo, Melina.“
Bestimmt grinse ich jetzt wieder wie ein bescheuertes Honigkuchenpferd. Auch Wills Mundwinkel wandern nach oben. Man merkt, dass er das mit dem Lächeln noch üben muss. Freut er sich auch, mich zu sehen? Kann eine Statue sich überhaupt freuen? Oder macht er mir nur alles nach? Egal, es ist ein gutes Gefühl, wenn du aus der Schule kommst und jemand dich anlächelt.
„Willst du zum Spielen runterkommen?“, frage ich. Keine Ahnung, ob Will das verstanden hat, aber er klettert von seinem Sockel und es klappt schon viel besser als beim ersten Mal.
Dann stehen wir rum und schauen uns an.
Normalerweise sind es immer die anderen, die sagen, was gemacht wird. Meine Eltern. Frau Rose. Jessie. Es dauert eine Weile, bis ich kapiere, dass Will nichts sagen wird. Dass ich diesmal die Bestimmerin bin. Das ist neu, fühlt sich aber auch irgendwie gut an.
„Wir können Versteck-Fangen spielen“, schlage ich vor. „Du versteckst dich und ich muss dich suchen und fangen. Ganz einfach.“ Ich lehne den Kopf gegen den kühlen Grabsockel und fange an zu zählen. Hinter meinen geschlossenen Lidern tanzen bunte Flecken. „Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein … Hinter mir und vor mir, eins, zwei, drei, ich komme!“
Als ich mich umschaue, ist Will verschwunden. „Weg!“, flüstert Pippa. Aber dann erkennen wir, dass er einfach statuenstill zwischen den Gräbern steht.
Ich laufe ein paar Schritte auf ihn zu, extra langsam. „Hey, steh da nicht rum wie ein Stein! Du musst weglaufen!“
Wie ein Schlafwandler setzt sich Will in Bewegung. Wenn Schnecken Fangen spielen würden, wäre das ungefähr genauso spannend. Die ersten paar Male kriege ich ihn immer sofort und er mich nie. Doch nach einer Weile werden Wills Bewegungen sicherer und schneller.
Im Zickzack presche ich durch die Grabreihen. Die ersten Herbstblätter bedecken die Wege wie bunte Handabdrücke. Sie sind rutschig unter meinen Schuhen. Will ist dran mit Fangen. Ich spüre ihn in meinem Rücken, spüre, dass er mich bald eingeholt haben wird. Es ist seltsam, wenn du jemandem etwas beibringst und merkst, dass er es bald besser können wird als du selbst.
War das eine Berührung an meiner Schulter? Schnell klatsche ich mit der Hand gegen Wills Grabsockel. „Frei!“
„Frei?“, wiederholt Will hinter mir fragend.
„Ja, das bedeutet, dass man hier nicht gefangen werden kann. Dass man sicher ist“, schnaufe ich, aber ich weiß nicht, ob er das versteht.
„Du hast einfach die Regeln geändert, als du gemerkt hast, dass du gleich verlierst. Das ist unfair!“, schimpft Pippa.
Die Luft brennt mir in der Kehle, ganz hinten schmecke ich den leicht bitteren Geruch des Laubs. Schweiß trocknet auf meiner Oberlippe. Will schwitzt nicht. Ich weiß nicht, ob es vom Laufen kommt, aber seine Haut ist jetzt weniger geisterweiß. Da ist ein Hauch von Rosa, als hätte man die normale Hautfarbe im Farbkasten bei ihm mit ganz viel Wasser verdünnt.
„Unfair“, wiederholt er Pippas Worte.
„Genau!“, bestätigt Pippa. „Will hat dich gehabt, bevor du abgeschlagen hast, Melina!“
„Okay, meinetwegen, bin ich halt wieder dran.“ Ich drehe Will zum Zählen den Rücken zu. Auch die blöde Pippa würdige ich keines Blickes mehr. Sie sollte zu mir halten, schließlich ist sie schon länger meine Freundin als seine. „Eins, zwei, drei …“
Diesmal dauert es fast fünf Minuten, bis ich Will entdecke. Pippa hilft mir nicht, obwohl sie von ihrem Ausguck auf meiner Schulter bestimmt gesehen hat, wie Will hinter dem Grabstein aufgesprungen ist, hinter dem er gekauert hat. Erst ganz knapp vor dem Frei gelingt es mir, ihm den Weg abzuschneiden. Will schlägt einen Haken, um meiner Hand zu entgehen, und jagt den Weg entlang. Er ist so schnell, dass es aussieht, als würden seine Füße den Boden kaum berühren. Vielleicht kommt das durch die Flügel. Sie bewegen sich auf seinem Rücken, als würde er gleich abheben.
Schon ist er zwischen den Büschen an der nächsten Wegbiegung
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