Melmoth der Wanderer
fing er sich in seinem Falle – und alle wandten sich von ihm – und stiegen!
Sein allerletzter, verzweifelter Blick zurück, er hing an dem Zifferblatt der Ewigkeit, – der emporgestreckte, schwarze Gigantenarm, er schien jetzt den Zeiger vorzudrehen – der Zeiger wies auf die fatale Zahl, – der Wanderer stürzte, – schlug in Feuersfluten, – versank und brannte, brüllte, gellte, schrie! – Die Feuerwogen bäumten brausend, dröhnend sich über ihm und schlugen gleich darauf zusammen überm Haupt des Verdammten. – Die Uhr der Ewigkeit schlug seine Stunde: – »Raum für des Wanderers Seele, Raum für ihn!« – und aus der Feuerbrandung jenes Meeres, das tosend an demantne Felsen schlug, erklang’s wie Antwort: – »Da ist Raum für mehr!« – Der Wanderer erwachte.
SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Und kam herein, den Höllenschein
Im Blick, und nahm den Toten.
Southeys Die Alte von Berkeley
Melmoth und Moncada wagten bis gegen Mittag nicht, sich der Tür zu nahen. Erst dann pochten sie leise dagegen und traten, da sie keine Antwort erhielten, langsam und zaghaft ein. Das Gemach befand sich in dem nämlichen Zustand, in welchem sie es in der Nacht, oder vielmehr in der Frühe, verlassen hatten: Alles war düster und still, die Fensterläden waren nicht geöffnet worden, und der Wanderer saß noch immer in den Stuhl zurückgelehnt und schien zu schlafen.
Das Geräusch, welches die Eintretenden verursachten, ließ ihn aufschrecken und fragen, um welche Uhr es sei. Sie sagten es ihm. »So ist meine Stunde gekommen«, sprach der Wanderer. »Und es ist eine Stunde, an der ihr nicht teilzuhaben, der ihr nicht beizuwohnen braucht. Schon holt die Uhr der Ewigkeit zum Schlage aus, doch soll dies tödliche Geläut an keines Sterblichen Ohr dringen!«
Dieweil er solches sagte, traten die beiden auf ihn zu und gewahrten voll Entsetzen die Veränderung, die die letzten Stunden an dem Sprecher bewirkt hatten. Das Haar war so weiß wie der Schnee, die Lippen waren eingesunken, die Gesichtsmuskulatur erschlafft und von greisenhafter, verwelkter Beschaffenheit, – der Wanderer war zum Inbild der ehrwürdig-altersschwachen Hinfälligkeit geworden. Da er gewahrte, welch augenscheinliche Wirkung sein Aussehen auf die Eingetretenen übte, erhob er sich. »Ihr seht, wie’s mir zumut’ ist«, rief er aus. »Es ist so weit, die Stunde ist gekommen. Der Ruf erschallt, und ich muß ihm gehorchen, – mein Meister gibt mir anderes zu tun! – Wenn über euch ein Meteor verglüht, – wenn ein Komet auf seiner Feuerbahn sich eurer Sonne naht, so seht ihm nach und denkt daran: dies mag die Seele sein von Melmoth, der vielleicht dazu verdammt ist, so flammend-unstetes Gestirn zu führen.«
Seine Lebensgeister, welche in einer Art verzweifelten Stolzes aufgeflammt waren, sanken ebenso rasch wieder in sich zusammen, und er fügte hinzu: »Verlaßt mich jetzt. Ich muß die letzten Stunden meiner sterblichen Existenz allein verbringen – wenn es die letzten sind.« Er sagte dies mit einem innerlichen Schaudern, das auch seine Zuhörer empfanden. »In diesem Gemach«, fuhr er fort, »hab’ ich den ersten Atemzug getan, – und hier muß ich wohl auch meinen letzten Odem aushauchen. – Ach, wär’ ich nie geboren!
Menschenkinder – geht – laßt mich allein. Und was immer ihr in der kommenden Schreckensnacht vernehmen mögt: meidet dies Zimmer, so euch euer Leben lieb ist! Denkt daran«, sprach er mit erhobener, ungebrochener Stimme, »kommt nicht in seine Nähe, sonst ist ob so tollkühner Neugierde euer Leben verwirkt! Ich selbst habe ja um solcher Wißbegier willen mehr als das Leben gewagt – und hab’ es verloren! – So seid gewarnt – und geht!«
Die beiden zogen sich zurück und verbrachten den ganzen verbleibenden Tag, ohne irgendwelche Nahrung zu sich zu nehmen, so tief saß ihnen die brennende Angst in den Eingeweiden. Erst mit Einbruch der Nacht gingen sie auseinander, und obschon sich jeder aufs Lager warf, war an Ruhe nicht zu denken. Man hätte ja auch in der Tat keinen Schlaf finden können: zwar hatten die Geräusche, welche bald nach Mitternacht aus des Wanderers Zimmer drangen, fürs erste nichts Beängstigendes an sich, doch wurden sie alsbald abgelöst durch so unbeschreibliche Entsetzenslaute, daß Melmoth zu fürchten begann, solcher Lärm müßte auch bis zu dem Gesinde dringen, das er vorsorglich angewiesen, die Nacht in den angrenzenden Gebäuden zu verbringen. Er selbst, schlaflos wie
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