Melmoth der Wanderer
er war vor unerträglicher innerer Ruhelosigkeit, erhob sich und schritt unablässig in dem zu der Schreckenskammer führenden Gang auf und nieder. Dabei war’s ihm, als erblickte er am jenseitigen Ende eine Gestalt. Sein Blick war aber so verstört, daß er in derselben zunächst gar nicht Moncada zu erkennen vermochte. Keiner fragte den andern nach dem Grunde solchen Hierseins – doch schritten sie nunmehr gemeinsam auf dem Gange auf und nieder.
Nach kurzer Zeit nahmen die Laute in dem Zimmer einen Grad solcher Entsetzlichkeit an, daß die fürchterliche Warnung, die der Wanderer ausgesprochen, die beiden Lauschenden fast nicht mehr davon zurückzuhalten vermochte, in das Gemach zu stürzen. Es war ein Stimmenlärm, darin es aufs unbeschreiblichste durcheinandertönte, und man konnte nicht unterscheiden, ob dies nun gekreischte Stoßgebete oder gellende Gotteslästerungen waren. Die beiden Lauscher hofften nur inständig, es möge das erstere sein.
Gegen Morgen ließ solches Lärmen plötzlich nach – und war in einem Augenblick verstummt. Und die tiefe Stille, die nun folgte, sie schien den zwei Männern fürs erste noch fürchterlicher zu sein denn alles, was ihr voraufgegangen. Und nachdem sie einander etwelche fragende Blicke zugeworfen, eilten sie gemeinsam auf das Zimmer zu. Sie stürzten hinein – es war leer –, nicht die kleinste Spur seines letzten Bewohners war darin verblieben.
Nachdem die beiden eine Weile in vergeblichem Erstaunen um sich geblickt, gewahrten sie eine schmale Tür gegenüber jener, durch die sie eingetreten waren. Dieselbe stand offen und führte zu einem engen Treppenaufgang. Im Nähertreten entdeckten die beiden Männer Fußspuren, welche von jemand herzurühren schienen, der durch feuchten Sand oder Lehm geschritten sein mußte. Diese Fußspuren waren überaus klar sichtbar. – Die beiden folgten ihnen bis zu einer Tür, die in den Garten führte. Auch sie stand offen. Die Spuren folgten in aller Deutlichkeit dem schmalen Kiespfad, welcher bis zu dem eingestürzten Zaun führte, der gegen den Heidegrund hin offen stand, welcher sich halben Wegs hinauf gegen jene Felsklippe breitete, deren Gipfel das Meer überschaute. Da die Nacht regnerisch gewesen war, konnten die Verfolger jene Spur auch auf dem Heidegrund deutlich wahrnehmen. Gemeinsam machten sie sich daran, den Felsen zu erklimmen.
So früh am Tage es auch war, die Dorfinsassen, sämtlich arme Fischer und Küstenbewohner, waren alle schon auf den Beinen und beteuerten Melmoth und dessen Kompagnon, sie seien in der vergangenen Nacht durch unbeschreibliche Laute aufgestört und geängstet worden. Bemerkenswert daran war aber, daß die Worte dieser durch Natur und Gewohnheit zu Übertreibung und Aberglauben neigenden Menschen durchaus nicht übertrieben oder abergläubisch wirkten.
Es gibt ja eine Gewißheit, welche von so überwältigender Wucht ist, daß sie alle Besonderheiten menschlicher Rede auslöscht und den Herzen nichts mehr als nur die reine Wahrheit entpreßt. So winkte denn Melmoth all jene, die ihm ihre Begleitung angeboten, zurück und machte sich daran, jene Felsklippe zu ersteigen. Einzig Moncada folgte ihm nach.
Durch den wuchernden Stechginster, welcher die Klippe fast bis zu deren Gipfelpunkt bedeckte, war eine Spur gezogen, als hätte ein menschliches Wesen sich seinen Weg hinaufgebahnt, oder als wäre es hinaufgeschleppt worden. – Es war eine schmale, niedergetrampelte Gasse, welche wohl kein anderer genommen hätte, er wäre denn gewaltsam dazu gezwungen worden. Melmoth und Moncada erreichten schließlich die höchste Erhebung des Felsens. Unten breitete sich weithin das Meer, – der wilde, weite, alles verschlingende Ozean! An einem Felsvorsprung zu ihren Füßen flatterte etwas im Seewind. Melmoth kletterte hinab und griff danach. Es war das Halstuch, welches der Wanderer noch gestern nacht getragen – und war seine letzte Erdenspur!
Melmoth und Moncada blickten einander in schweigendem, unaussprechlichem Entsetzen an. Dann machten sie sich langsam auf den Heimweg.
Finis
NACHWORT
Alle Farben verschwinden
in der Nacht,
und die Verzweiflung
führt kein Tagebuch.
Melmoth der Wanderer
André Breton hat diese Wendung an den Beginn seines kurzen Aufsatzes über »Melmoth« gestellt [27] . Sie ist in der Tat ein Stenogramm der Stimmungen wie der Methode des Buches; ihr erster Halbsatz ist Einfühlung, vage Melancholie, die verweht, der zweite entschiedene Rhetorik, die festhält,
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