Melodie der Liebe
verlorene Zeit wieder aufzuholen, nachdem du neun Monate damit verschwendet hast, irgend so ein Balg auf die Welt zu bringen, den du hinterher ohnehin weggibst. Werde erwachsen.“
„Ich bin erwachsen.“ Wie zum Schutz und zur Selbstverteidigung legte sie eine Hand auf den Bauch. „Und ich werde dieses Kind bekommen.“
„Wie du willst.“ Er machte eine abfällige Geste mit dem Weinglas. „Aber zieh mich nicht da rein. Ich muss an meine Karriere denken. Wahrscheinlich ist es besser so für dich“, beschloss er. „Bring irgendeinen Versager dazu, dich zu heiraten, und werde Hausfrau. Als Tänzerin hättest du es sowieso nur bis zum Mittelmaß gebracht.“
Also hatte sie das Kind bekommen und es geliebt. Für eine viel zu kurze Zeit. Und jetzt bekam sie wieder eins. Sie durfte es nicht wollen. Nicht wenn sie genau wusste, wie es war, es zu verlieren.
Verzweifelt schleuderte sie das Fläschchen von sich und riss ihre Sachen aus dem Wandschrank. Sie musste weg. Sie musste nachdenken. Ich brauche Ruhe, sagte sie sich, aber erst muss ich es ihm sagen.
Diesmal fuhr sie zu seinem Haus. Es war Samstag, und auf den Bürgersteigen und den Rasen spielten Kinder. Einige riefen ihr etwas zu, und Natasha hob mühsam die Hand, um den Gruß zu erwidern. Vor Spences Haus vergnügte Freddie sich mit ihren Kätzchen.
„Tash! Tash!“ Lucy und Desi gingen blitzschnell in Deckung, aber Freddie rannte zum Wagen. „Bist du gekommen, um mit mir zu spielen?“
„Heute nicht.“ Natasha rang sich ein Lächeln ab und küsste sie auf die Wangen. „Ist dein Daddy zu Haus?“
„Er spielt Musik. Er spielt viel Musik, seit wirhergezogen sind. Ich habe ein Bild gemalt. Ich werde es Papa schenken!“
Natasha bemühte sich, das Lächeln beizubehalten. „Da wird er sich aber sehr freuen.“
„Komm, ich zeig’s dir.“
„Nachher. Ich muss erst mit deinem Vater sprechen. Aber allein.“
Freddies Unterlippe schob sich drohend vor. „Bist du böse auf ihn?“
„Nein.“ Sie gab Freddie einen Stupser auf die Nase. „Such deine Kätzchen. Ich komme noch zu dir, bevor ich wieder wegfahre.“
„Okay.“ Freddie sauste jubelnd davon. So lockt sie die Kätzchen bestimmt nicht unter den Büschen hervor, dachte Natasha.
Sie klopfte an die Tür und beschloss, ganz langsam und logisch vorzugehen. Wie eine Erwachsene.
„Miss.“ Vera zog die Tür auf. Diesmal klang sie nicht so distanziert wie sonst. Freddie hatte ihr das Thanksgiving in Brooklyn genauestens beschrieben, und das hatte sie besänftigt.
„Ich würde gern Dr. Kimball sprechen, wenn er nicht zu beschäftigt ist.“
„Kommen Sie herein.“ Stirnrunzelnd musterte sie Natasha. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie etwas besorgt. „Geht es Ihnen gut, Natasha? Sie sind so blass.“
„Ich bin in Ordnung, danke.“
„Möchten Sie etwas Tee?“
„Nein, ich kann nicht lange bleiben.“
Obwohl sie insgeheim fand, dass Natasha einem verängstigten Kaninchen glich, nickte Vera nur. „Sie finden ihn im Musikzimmer. Er hat die halbe Nacht hindurchgearbeitet.“
„Danke.“ Natasha packte ihre Tasche fester und ging durch die Halle. Sie hörte die Musik, eine klagende Melodie. Aber vielleicht nahm sie sie nur so wahr. Blinzelnd unterdrückte sie die Tränen.
Als sie ihn sah, erinnerte sie sich daran, wie sie diesen Raum zum ersten Mal betreten hatte. Vielleicht hatte sie gleich damals begonnen, sich in ihn zu verlieben. Als er, vom Sonnenlicht umflutet, mit einem Kind auf dem Schoß dagesessen hatte.
Sie streifte die Handschuhe ab und ließ sie nervös durch die Finger gleiten, während sie ihn beobachtete. Er war tief in die Musik versunken, zugleich ihr Hüter und ihr Gefangener.
„Spence.“ Sie flüsterte seinen Namen, als die Musik endete, aber er hörte sie nicht. Sie konnte sehen, wie intensiv er sich auf seine Arbeit konzentrierte. Er war unrasiert. Als sie darüber lächeln wollte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sein Hemd war zerknittert und am Kragen offen. Das Haar war zerwühlt. Er fuhr sich geistesabwesend mit der Hand hindurch. „Spence“, wiederholte sie.
Er kritzelte gerade etwas auf College-Papierund sah verärgert auf. Doch dann erkannte er sie und lächelte. „Hi. Ich habe nicht damit gerechnet, dich heute zu sehen.“
„Annie kümmert sich um den Laden.“ Sie knetete die Hände. „Ich musste dich sehen.“
„Ich bin froh, dass du das musstest.“ Er stand auf, obwohl ihm die Musik noch im Kopf herumging. „Wie spät ist es
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