Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
fragt: »Wie alt seid Ihr, Mr. Claire? Woher kommt Ihr?«
In dem kleinen Raum, bei dem es sich um das königliche Studierzimmer, das Skrivestue , handelt, brennt ein Feuer, und es riecht süßlich nach Apfelbaumholz und Leder.
Peter Claire erwidert, er sei siebenundzwanzig Jahre alt und seine Eltern wohnten in Harwich an der Ostküste Englands. Er fügt noch hinzu, daß das Meer dort im Winter unerbittlich sein könne.
»Unerbittlich. Unerbittlich!« wiederholt der König. »Nun, wir müssen weitereilen, dieses Wort übergehen oder umgehen. Unerbittlich. Doch ich sage Euch, Lautenspieler, mich plagen die Läuse. Seht nicht so erschreckt aus! Sie sind nicht in meinen Haaren und nicht auf meinem Kopfkissen. Ich meine Feiglinge, Gauner, Lügner, Säufer, Betrüger und Lüstlinge. Wo sind die Philosophen? Das ist meine ständige Frage.«
Peter Claire zögert.
»Ihr braucht mir nicht zu antworten!« sagt der König. »Sie sind nämlich alle von Dänemark weggegangen! Nicht ein einziger ist geblieben!«
Nun steht Seine Majestät auf und geht hinüber zum Feuer und zu Peter Claire, greift nach einer Lampe und hält sie dem jungen Mann ans Gesicht. Er mustert ihn, und Peter Claire senkt den Blick, weil er angehalten worden ist, den König nicht anzustarren. Es ist ein häßlicher König. Die Könige Charles I . von England und Ludwig XIII . von Frankreich sind gutaussehende Männer in diesem bedrohlichen Augenblick der Geschichte, doch König Christian IV . von Dänemark soll zwar allmächtig, tapfer und kultiviert sein, hat aber ein Gesicht wie ein Laib Brot.
Der Lautenspieler, dem die Natur in grausamem Kontrast dazu ein Engelsgesicht verliehen hat, bemerkt Weingeruch im Atem des Königs. Er wagt es jedoch nicht, sich zu bewegen, nicht einmal, als der König die Hand ausstreckt und zart seine Wange berührt. Peter Claire galt mit seinen blonden Haaren und meerblauen Augen von Kindheit an als hübsch. Er macht nicht viel Wesens um sein Aussehen, vergißt es oft völlig, als warte er nur ungeduldig darauf, daß die Zeit es ihm nehme. Er hörte einmal, wie seine Schwester Charlotte Gott bat, ihr sein Gesicht zu geben, und dabei dachte er, daß es für ihn wirklich ziemlich wertlos sei und viel besser ihres wäre. Nun wird der Lautenspieler hier, an diesem fremden Ort, während er trüben und düsteren Gedanken nachhängt, wieder einmal unerwartet einer Musterung unterzogen.
»Aha! Aha!« flüstert der König. »Gott hat übertrieben, wie Er es so oft zu tun scheint. Hütet Euch vor der Aufmerksamkeit meiner Frau Kirsten, die ganz entzückt ist von blondem Haar. Ich rate Euch, in ihrer Nähe eine Maske aufzusetzen. Und alle Schönheit vergeht, doch das wißt Ihr natürlich, darauf brauche ich nicht eigens hinzuweisen.«
»Ich weiß, daß Schönheit vergeht, Sir.«
»Natürlich wißt Ihr das! Nun, Ihr solltet mir lieber etwas vor-spielen. Sicher ist Euch bekannt, daß wir Euren Mr. Dowland hier am Hof hatten. Es war mir ein Rätsel, wie so schöne Musik aus einer derart in Aufruhr befindlichen Seele kommen konnte. Dieser Mann war getrieben von Ehrgeiz und Haß, doch seine Weisen waren wie sanfter Regen. So saßen wir schluchzend da, und Meister Dowland tötete uns mit wütenden Blicken. Auf mein Geheiß hin nahm ihn meine Mutter beiseite und sagte zu ihm: ›Dowland, so geht das nicht, das können wir nicht dulden!‹ Doch er erklärte ihr, Musik könne nur aus Feuer und Zorn entstehen. Was meint Ihr dazu?«
Peter Claire schweigt einen Augenblick. Aus unerklärlichen Gründen tröstet ihn diese Frage, und er spürt, wie seine Erregung ein klein wenig abflaut. »Ich meine, daß sie zwar aus Feuer und Zorn entsteht, Sir«, erwidert er dann, »aber ebenso aus dem genauen Gegenteil – aus kühlem Verstand und Ruhe.«
»Das klingt logisch. Aber natürlich wissen wir eigentlich nicht, wo die Musik entsteht und warum, auch nicht, wann der erste Ton gehört wurde. Und das werden wir auch niemals wissen. Es ist die menschliche Seele, die ohne Worte spricht. Doch scheint die Musik Schmerzen zu lindern – das ist tatsächlich wahr. Ich sehne mich übrigens danach, daß alles durchsichtig, ehrlich und wahrhaftig ist. Nun, warum spielt Ihr mir nicht eine von Dowlands Lachrimae vor? Seine Begabung lag im sparsamen Einsatz der Mittel, und das liebe ich abgöttisch. Seine Musik läßt keinen Raum für Exhibitionismus auf seiten des Spielers.«
Peter Claire nimmt die Laute vom Rücken und drückt sie sich an den Körper. Beim
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