Kreuzzug der Templer
Cluny hatte die gesamte Fahrt über seine Nervosität nicht ablegen können. Bei derartigen Gefühlen zog sich die Zeit einfach in die Länge. Alles dauerte doppelt so lange wie gewöhnlich.
An den Bahnhöfen waren die Fahrgäste ein- und ausgestiegen. Je mehr sie sich London näherten, umso leerer wurden die Wagen. In einem hatte er plötzlich ganz allein gesessen, und dort hatte er die Nähe des Todes wieder gespürt, ohne ihn jedoch gesehen zu haben, egal, in was für einer Gestalt er auch aufgetreten war.
Er hatte dann den Wagen gewechselt. Die ihn umgebende Atmosphäre war da besser gewesen. Er hatte sich einen Fensterplatz genommen, blieb dort sitzen und betrachtete sein blasses Gesicht als Spiegelung in der Scheibe. Sein Atem kondensierte auf dem Glas.
Auch dieser Wagen war recht leer. Soweit Cluny ihn überblicken konnte, saßen nur vier Passagiere verteilt auf den Bänken. Zwei Männer, die vor sich hindösten und eine ältere Frau, in deren Armen ein Kind schlief. Der Kinderwagen für den Nachwuchs stand neben ihr. Die Frau trug ein Kopftuch und besaß sehr dunkle Augen. Mit dem Tod hatte sie nicht zu tun, das wusste Cluny. Auch die anderen Männer hatte er nicht in Verdacht.
Nach den Terroranschlägen in der Londoner U-Bahn war man aufgewacht. Man hatte die Überwachungen noch mehr verbessert. Zu den Zielobjekten zählten die U-Bahnen, die Stationen, all die belebten Plätze und wohl auch die Eisenbahnen.
Alles gut und schön. Aber es war nicht möglich, eine perfekte Überwachung zu organisieren. Wer sie umgehen wollte, hatte noch immer eine Chance – und wenn es sich dabei um eine Gestalt handelte wie Cluny’s Verfolger, dann erst recht.
Er versuchte, etwas zu erkennen. Doch die Scheibe war nicht eben sauber, und die Landschaft dahinter lag eingetaucht in eine tiefe Dunkelheit. Diese wurde nur unterbrochen von den Lichtern der ersten Vorstädte der Millionenstadt.
Immer noch rollte der Zug. Gleichmäßig. Einschläfernd. Zu den immer gleichen Geräuschen kam das Schütteln, das leise Tacken, das Quietschen zwischen den Wagen.
Die Lichter draußen veränderten sich, als sie an dem Gelände eines Bahnhofs vorbeirauschten. Signalleuchten schimmerten. Kaltes Licht verteilte sich auch auf den Bahnsteigen, auf denen kein Mensch mehr stand. Zumindest sah er keinen.
Wo steckte der Tod?
Gisbert Cluny sah ihn nicht. Er wusste aber trotzdem, dass er sich in der Nähe aufhielt. Er war etwas Besonderes. Es hätte ihn in dieser Form nicht geben dürfen, aber es gab ihn trotzdem, das wusste Cluny genau. Nur hatte ihm keiner glauben wollen, bis er dann auf den Namen eines Mannes gestoßen war, der hier in London lebte.
John Sinclair!
Zu ihm war er unterwegs. Er hoffte, ihn zu treffen, bevor ihn der Tod erwischte. Wenn er Sinclair gegenüberstand, würden seine Angst und die Nervosität verschwinden. Das stand für ihn fest. Es dauerte nicht mehr lange. Der Zug würde sogar pünktlich sein, und Sinclair würde – so hoffte Cluny – auf dem Bahnsteig stehen und ihn abholen. Er hatte sich dem Inspektor beschrieben – ein hagerer Mann mit dunklen Haaren, bekleidet mit einem Wollmantel.
Waterloo Station – Endstation – war ein Bahnhof mit Geschichte. Ein großes Areal, das auch nach Mitternacht nicht leer war. Hier gab es zahlreiche Geschäfte. Es war hell. Lichterglanz verteilte sich auf und über dem Boden. Polizisten und Kameras beobachteten haargenau. Wenn es zu Gewalttaten kam, dann wurden sie sehr schnell entdeckt oder konnten verhindert werden.
Das gab Cluny Auftrieb. Durch so viele Länder war er geflohen, und jetzt wollte er die Früchte seiner Arbeit ernten.
Die Frau mit dem kleinen Kind saß hinter ihm. Er hörte das Jammern des Babys. Es machte ihm nichts aus. Die anderen Fahrgäste kümmern ihn ebenfalls nicht. Er wollte nur, dass der Zug so schnell wie möglich in der Station hielt.
Das leise Rumpeln blieb. Das Schaukeln verstärkte sich, wenn die Wagen über die Weichen rollten. Außen nahm die Helligkeit zu. In Dover hatte es geregnet, hier in London nicht. Aber die Luft war feucht, und Cluny sah Nebelschwaden.
Er konzentrierte sich auf John Sinclair. Sein Name war nicht unbekannt. Cluny hatte schon einiges über ihn erfahren, und er wusste, dass ihm nur der Inspektor helfen konnte. Bei anderen hatte er es versucht und war auf Ablehnung gestoßen.
Aber er war sich seiner Verantwortung bewusst. Er musste etwas unternehmen. Die Gefahr war einfach zu groß, auch wenn die meisten
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