Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
einzige Lichtquelle in dem Keller sind, sondern zwei schmale Öffnungen in der Wand zum Garten direkt oberhalb des Bodens führen. Es handelt sich nicht um Fenster, sondern lediglich um Schlitze in der Mauer, die Luft einlassen. Als Peter Claire jetzt dorthin blickt, sieht er ein paar Schneeflocken hereindrängen, als wären sie ein fehlgeleiteter Schwarm Sommermücken.
Ingemann kann seine Gedanken lesen. »Sicher denkt Ihr, daß wir es hier unten wärmer hätten, wenn der Raum nicht nach außen offen wäre, und darin stimmen wir natürlich alle mit Euch überein. Ich habe den König persönlich darum gebeten, Bretter vor diese Öffnungen nageln zu lassen. Er weigert sich jedoch und meint, die Weinfässer müßten atmen können.«
»Und daß wir erfrieren ist ihm egal?«
»Manchmal denke ich, daß es ihn vielleicht dazu bewegen könnte, uns woanders unterzubringen, wenn einer von uns sterben würde. Es ist aber schwierig, dafür einen Freiwilligen zu finden.«
»Und wie sollen wir uns konzentrieren, wenn wir so frieren?«
»Es wird von uns erwartet, daß wir uns daran gewöhnen. Und vielleicht überrascht Euch das: Wir tun es tatsächlich. Am schlimmsten ist es für die Südländer in unserer kleinen Gruppe, für Signor Rugieri und Signor Martinelli. Die Deutschen, Holländer, Engländer und natürlich die Dänen und Norweger überleben einigermaßen. Ihr werdet es ja sehen.«
KNÖPFE
Nach der Taufe wurde der kleine Christian seiner Mutter weggenommen.
Es war seinerzeit üblich, Säuglinge einer älteren Frau anzuvertrauen – gewöhnlich der Großmutter mütterlicherseits –, weil man glaubte, ältere Frauen, die sich schon länger ihrer eigenen Sterblichkeit widersetzten, verstünden es besser als ihre Abkömmlinge, den Tod vom Kind fernzuhalten.
Königin Sofie fand Trost bei ihren beiden Töchtern und dem ungesetzlichen Stricken. Dennoch wird vermutet, daß ihre Streitsucht und ihr Verlangen, heimlich ein großes eigenes Vermögen anzuhäufen, auf diese Zeit zurückgehen, in der sie ihres kleinen Sohnes beraubt wurde, den sie abgöttisch liebte.
Prinz Christians kleines Leben wurde in die Obhut seiner Großmutter, der Herzogin Elisabeth von Mecklenburg, im deutschen Güstrow gegeben. Diese betraute zwei junge Trompeter damit, abwechselnd vor der Tür des Prinzen Stellung zu beziehen. Wenn das Kind schrie, mußten sie trompeten, dann kam die Herzogin oder eine ihrer Frauen angerannt. Es war ihr einerlei, daß das Trompeten den ganzen Haushalt störte. »Wichtig ist nur«, sagte sie ungeduldig, »daß dem Knaben nichts zustößt. Alles andere ist belanglos.«
Christian wurde ein Holzstock in die Windeln gelegt, weil er einen geraden Rücken und gerade Gliedmaßen bekommen sollte. Er schrie Tag und Nacht, und die Trompeter bliesen. Als eine der Frauen vorschlug, den Stock zu entfernen, bezichtigte sie die unerbittliche Herzogin der Verhätschelung und Sentimentalität. Sie beaufsichtigte jedoch in ihrer eigenen Küche die Herstellung einer Salbe aus Schwarzwurzblättern zum Heilen der zarten, vom Stock wundgescheuerten Haut. Und als der Prinz seine Milchzähne bekam, ordnete sie an, den Kiefer nicht einzuschneiden, sondern abzuwarten, bis dieser »von allein durchstoßen wird wie der Erdboden im Frühjahr von den blassen Schnäuzchen der ersten Blumen«.
Als die Windeln allmählich gelockert wurden, so daß sich die kräftigen Beinchen bewegen und strampeln und die dicken Händchen die Gegenstände in Reichweite erforschen konnten, nahm die Herzogin das Kind oft auf den Schoß und redete mit ihm. Sie sprach dann Deutsch. Sie erzählte ihm, wie alles im Himmel und auf Erden eingerichtet war, mit Gott und seinen Heiligen hoch oben im weiten Blau des Himmels und seinen zwischen den weißen Wolken schwebenden Engeln. »Siehst du«, erklärte sie ihm, »weil Dänemark wegen seiner tausend Seen ein so nasses Königreich ist, spiegelt sich der Himmel dort öfter als anderswo auf Erden. Die Menschen sehen diese Spiegelungen und tragen sie im Herzen und lieben daher Gott und die Natur. Deshalb sind sie ruhig, so daß du sie, wenn du eines Tages König wirst, regieren und ihr Vertrauen gewinnen kannst.«
Während sie sprach, spielte er mit den Haarlocken am Ende ihrer Zöpfe. Und heute heißt es, der König habe etwas Seltsames gestanden: Er glaube, sich an die langen, goldenen Zöpfe seiner Großmutter, der Herzogin von Mecklenburg, erinnern zu können und reibe und liebkose daher seine eigene dünne
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