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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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trifft man in dieser steinernen Welt auf ein größeres Lebewesen - vielleicht einmal auf einen einsamen Hirsch, der des Abends, das Geweih auf den Rücken gelegt, auf einem Felsvorsprung mit ausgestreckten Läufen in die endlose Weite starrt.

2
    Das mit Disteln bewachsene Land geht in den elendesten, unfruchtbarsten Boden über, den man sich vorstellen kann, eine Erde von quarkartigem Weiß. Wo Gräser, Bäume, sogar die Bocksfeige aufgehört haben zu wachsen, da breiten sich die Graudisteln üppig aus, da wuchern und gedeihen sie. Auf guter Erde findet man diese Disteln nie. Guter Boden wird immer bebaut, gepflegt. Solchen Boden liebt die Distel nicht. Auf Boden mittlerer Güte ist sie aber zu finden, dort muß man sie erst ausreißen, bevor gesät werden kann. So ist es überall auf den Ebenen bis hinauf zu den Gipfeln der Tauruskette.
    Die Graudistel wird etwa einen Meter hoch. Sie hat Zweige, die mit stacheligen Blüten besetzt sind, Blüten in der Form von fünfzackigen, von harten Stachelspitzen eingefaßten Sternen. Jede Distel bringt Hunderte von ihnen hervor.
    Wo sie wächst, da steht sie so dicht, daß selbst eine Schlange nicht zwischen zwei Stauden hindurchkriechen kann. Und ließe man eine Nadel über dem Blätterdickicht fallen, so würde sie gewiß nicht bis zum Boden gelangen.
    Im Frühling zeigen die Disteln ein mattes Blaßgrün. Schon bei leisem Wind legen sie sich fast bis auf die Erde. Im Hochsommer beginnen blaue Adern zwischen dem Grün zu erscheinen, dann gehen nach und nach die Zweige und der Schaft in ein helles, aber immer kräftiger werdendes, prachtvolles Blau über. Schließlich sind ganze Felder, endlose Ebenen eine einzige blaue Fläche, die bei Sonnenuntergang im Winde wogt und rauscht. Wie das Meer den rötlichen Schimmer der sinkenden Sonne widerspiegelt, so liegt auch über dem Distelmeer der gleiche rötliche Schein.
    Wenn es Herbst wird, beginnen die Disteln zu vertrocknen. Ihr Blau verwandelt sich in Weiß, und ein krachendes Geräusch ist zu vernehmen. Kleine weiße Schnecken kleben zu Tausenden an den Schäften, die über und über mit milchigen Perlen bedeckt scheinen. Das Dorf Değirmenoluk liegt mitten im Distelland. Es gibt keine Äcker,  keine Weinberge, keine Gemüsegärten. Nur eine Wildnis voller Graudisteln.
    Mitten durch das Distelgestrüpp lief der Knabe. Er war völlig außer Atem. Schon eine Ewigkeit war er so gelaufen, ohne anzuhalten. Plötzlich blieb er stehen, betrachtete seine von den Stacheln blutig gerissenen Beine. Er war am Ende seiner Kräfte. Er hatte Furcht. Hatte er es geschafft, würde er es schaffen? Ängstlich sah er sich um, weit und breit war niemand zu sehen. Er schöpfte wieder neuen Mut, schlug sich nach rechts, lief weiter, bis er so erschöpft war, daß er sich mitten zwischen die Disteln fallen ließ. Da sah er neben sich einen Ameisenhaufen. Es waren sehr große Ameisen. Für einen Augenblick vergaß er alles und vertiefte sich in den Anblick der am Eingang zu ihrem Bau wimmelnden Insekten. Dann kam er blitzschnell wieder zu sich, sprang auf, hielt sich wieder rechts, bis er bald danach den Bereich der Disteln hinter sich hatte. Am Rande des Feldes sank er in die Knie. Als er merkte, daß sein Kopf über die Disteln hinausragte, ließ er sich auf dem Boden nieder. Über seine Beine rieselte das Blut. Auf die blutenden Stellen strich er Erde. Die Wunden brannten wie Feuer.
    Es war nur noch ein ganz kleines Stück bis zu dem Felsen. Mit seinen letzten Kräften lief er darauf zu. Bald war er bei der Platane, die unter dem höchsten Felsen steht. Der Boden um den Fuß des Baumes war brunnenähnlich vertieft, ausgefüllt mit goldgelben, rotgeäderten Blättern, die sich noch am Stamm der Platane hochtürmten. Er warf sich auf das raschelnde Blätterpolster. Das Geräusch ließ einen Vogel von der äußersten Spitze eines der kahlen Äste auffliegen. Der Knabe, zu Tod erschöpft wie er war, fand noch die Kraft, zu überlegen. Nichts wäre köstlicher, als hier die Nacht zu verbringen, nicht mehr keuchend zu laufen, zu fliehen ... Hier war es so weich, daß man nicht wieder aufstehen konnte. Dann sagte er sich, daß ihn Wölfe und andere wilde Tiere hier in Stücke reißen würden. Ein paar von den letzten Blättern des Baumes fielen zu den anderen. Er sah ihnen zu.
    Er sprach laut zu sich selbst, als ob noch ein anderer da sei: »Ich gehe hin. Ich muß das Dorf finden. Keiner weiß, daß ich nach dort unterwegs bin. Ja, ich gehe. Nie mehr

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