Memoiren 1902 - 1945
stürmischen Verehrer nie wieder gesehen und auch kein Geschenk für meine gewonnene Wette erhalten. Er ist, wie ich viel später erfuhr, in sehr frühen Jahren gestorben.
Mein Wunsch, selbständig zu sein, wurde immer stärker. Niemals wollte ich in meinem Leben von irgend jemand abhängig werden. Wenn ich sah, wie meine Mutter von meinem Vater manchmal behandelt wurde - er konnte wie ein Elefant trampeln, wenn sich am gestärkten Kragen seines Hemdes der Knopf nicht aufmachen ließ -, dann schwor ich mir, daß ich in meinem späteren Leben niemals das Steuer aus der Hand geben würde. Nur mein eigener Wille sollte entscheiden.
Meine Mutter war eine großartige Frau, aber sie wurde zur Sklavin meines Vaters. Sie hat ihn sehr geliebt, aber was sie mitmachen mußte, war entsetzlich. Ich habe mit ihr gelitten. Trotzdem habe ich meinen Vater nicht hassen können. Er besaß auch viele gute Eigenschaften. Er sorgte für seine Familie, war ungemein fleißig, und wenn er in seinem Jähzorn Porzellan zerschlagen hatte, versuchte er es wieder zu kitten. Aber es war oft sehr schwierig, mit ihm auszukommen. Er spielte gern mit mir Schach - aber ich mußte ihn immer gewinnen lassen. Als ich ihn einmal matt gesetzt hatte, wurde er so zornig, daß er mir den Besuch eines Kostümfests verbot, auf das ich mich so gefreut hatte. Zum Glück war mein Vater oft auf seiner Jagd, und wenn er dorthin fuhr, dann fühlten wir uns zu Hause endlich frei. Meine Mutter und ich gingen dann ins Kino, und sogar auf Bälle. Mein Bruder, in unsere Heimlichkeiten eingeweiht, war noch zu jung, er mußte brav zu Haus bleiben.
Die Rennbahn
M ein Vater war ein eifriger Rennbahnbesucher. Er wettete gern, keine großen Beträge, aber immerhin verlor er manchmal mehr, als es gut war. Meine Mutter und ich durften ihn begleiten. Er ging nur zu den Galopprennen im Grunewald und in Hoppegarten, Trab- und Hindernis-Rennen waren ihm gleichgültig. Ich hatte weder Geld noch Interesse am Wetten und konzentrierte mich ganz auf die Pferde und die Jockeys. Der Lieblingsjockey der Berliner hieß Otto Schmidt, er wurde auch bald mein Liebling. Wenn er siegte, tobte das Publikum. Er ritt ausschließlich für den Rennstall der Herren von Weinberg, was an den weiß-blauen Streifen auf den Jockey-Blusen erkennbar war. Dieser Rennstall besaß damals ein sogenanntes Wunderpferd, das elf Siege hintereinander errungen hatte und noch nie geschlagen worden war. Es hieß «Pergolese», ein Galopper für kurze Rennstrecken von
1000 bis 1200 Meter. Erst als die Besitzer den Fehler machten, «Pergolese» beim 12. Einsatz über eine doppelt so lange Strecke laufen zu lassen, wurde das Wunderpferd geschlagen. Über diese Niederlage trauerten alle seine Liebhaber, auch ich habe schrecklich geweint.
Meist war meine Freundin Hertha mit uns auf der Rennbahn. Wir standen im Ring, wo die Jockeys die Pferde einritten, rannten zum Start, beobachteten das Rennen und sahen die Zieleinläufe. Wir jauchzten und wir litten - mit Otto Schmidt. Um auch nach außen hin unsere Sympathie für den Rennstall von Weinberg zu zeigen, nähten wir an unsere Sommerkleider und Tüllhüte blau-weiße wehende Bänder. Manchmal fragte ich Hertha, ob denn Otto Schmidts Blick - hoch oben vom Pferd - einmal auf meine schwärmerischen Augen gefallen sei, das bestätigte sie mir meist. Ich glaubte ihr aber nicht, denn Reiter, wie auch Schauspieler auf der Bühne, erkennen selten jemand im Publikum.
Um Otto Schmidt kennenzulernen, habe ich mich in ein kleines Abenteuer eingelassen. Bevor die Pferde auf die Rennbahn geführt werden, kann man sie und die Reiter auf einem Platz beobachten, wo sie in einem kleinen Kreis geritten werden. Dies war die einzige Stelle auf dem Gelände, auf der man sich mit einem Jockey unterhalten konnte. Einige Male hatte ich vergebens versucht, einen Kontakt mit Otto Schmidt herzustellen. Er war scheu und zurückhaltend. Aber da gab es einen anderen, bekannten und beliebten Jockey namens Rastenberger. Er war genau das Gegenteil von Otto Schmidt. Lebhaft und kontaktfreudig, unterhielt er sich öfter mit Leuten aus dem Pu blikum. Er hatte mich schon einige Male beobachtet, und eines Tages sprach er mich auch an. Mein Vater war nicht in Sicht, so konnte ich mit ihm etwas plaudern.
Er war über meine Kenntnisse der Vollblutzucht überrascht. Mein Schwärm für Otto Schmidt hatte mich veranlaßt, mich mit der Vollblutzucht zu beschäftigen. Von allen guten Rennpferden
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