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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leni Riefenstahl
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ausgewählt, und mich dort angemeldet. Dieses Mal konnte ich den «Abtransport» nicht verhindern. So brachten mich meine Eltern im Frühjahr 1919 nach Thale. Als ich dort Fräulein Lohmann, der Leiterin des Pensionats, vorgestellt wurde, sagte mein Vater zu ihr: «Behandeln Sie meine Tochter sehr streng. Vor allem, unterstützen Sie nicht ihre Neigungen - sie möchte nämlich Schauspielerin oder Tänzerin werden. Ich habe sie hierher gebracht, damit sie für immer diese Spinnereien aufgibt. Ich hoffe sehr, daß Sie alles daran setzen, mir zu helfen.»
      Trotzdem hatte ich heimlich meine Ballettschuhe eingepackt und mein Gewissen mit dem Gedanken beruhigt, daß ich ja nur für mich allein üben werde - und das tat ich sehr ausgiebig. Jede freie Stunde habe ich heimlich trainiert. Schon um fünf Uhr früh klingelte mein Wecker. Dann hatte ich drei Stunden Zeit, um mit meinen Ballettschuhen zu üben. Eine besondere Freundschaft verband mich mit meiner Zimmerkameradin Hela Gruel. Auch ihr Wunsch war es, Schauspielerin zu werden, und sie sollte hier das Theater, wie ich das Tanzen, vergessen. Mein Vater hatte nicht bedacht, daß in einem solchen Pensionat auch Theaterspielen zu den Vergnügungen der Schüler gehört. In mir fand es eine Hauptinterpretin. Ich inszenierte die Stücke und «übernahm» alle möglichen Rollen - ein buckliges Weib im «Rattenfänger von Hameln», daneben «Die schöne Galathee», ja ich spielte sogar den Faust im altdeutschen Spiel von «Dr. Fausts Höllenfahrt».
      Im übrigen durften wir an jedem Wochenende die Freilichtbühne in Thale besuchen; dort wurden vor allem klassische Stücke gegeben: Schillers «Räuber», Lessings «Minna» und Goethes «Faust». Hätte Fräulein Lohmann geahnt, wie ungeheuer stark diese Aufführungen meine verdrängten Wünsche wieder aufflammen ließen, hätte sie mir diese Besuche kaum erlaubt. Damals schrieb ich meiner Freundin nach Berlin:

    Liebe Alice!
    Ich werde immer ernster und weiß nicht weshalb. Ich denke zu viel und werde zu vernünftig, es ist zum Verrücktwerden, aber es ist nun mal so. Ich fürchte, ich könnte keinen Unsinn mehr machen, mir kommt alles so lächerlich vor, die Menschen am allermeisten. Ich verändere mich sehr. Ob zu meinem Vorteil oder Nachteil, kann ich nicht sagen. Weißt du, mir ist so, als ob ich schon zwanzig oder drei ßig wäre... Stell Dir vor, ich habe angefangen zu «Schriftstellern». Einige Artikel habe ich schon geschrieben, die ich der Sportwelt ein schicken wollte, aber bisher noch nicht den Mut gefunden. Außerdem möchte ich einige kleine Novellen schreiben, die ich vielleicht der Filmwoche einsende. Auch arbeite ich an einem Filmstoff, den ich aber für mich behalte, weil ich selbst einmal die Hauptrolle spielen möchte. Der Titel: Königin des Turf. Hoffentlich gelingt es mir. Der Film besteht aus einem Vorspiel und sechs Akten. Außerdem habe ich über die Flugzeuge etwas ausgearbeitet, und zwar wegen des kommenden zivilen Luftverkehrs. Ich habe davon mehrere Zeichnun gen gemacht. Natürlich ist dies alles nur Phantasie. Ich wünschte, ich wäre ein Mann, dann wäre es leichter, meine Pläne zu verwirklichen...
    Deine Leni
      Diesen kindlich naiven Brief, den mir meine Freundin vor einigen Jahren zurückgab, zitiere ich nur, weil darin die Anlagen für meine spätere berufliche Tätigkeit schon sichtbar werden.
      Bevor ich nach einem Jahr das Pensionat verließ, verlangte mein Vater, ich müßte mich nun für eine berufliche Ausbildung entscheiden. Mein Ideal einer Frau war die Polin Madame Curie. Ihr entsagungsreiches Leben, ihre Besessenheit, ihr konzentrierter Wille, nur für ihre Aufgabe zu leben, war für mich ein Vorbild. Aber ich fürchtete, bei meinem so stark ausgeprägten Hang zur Gefühlswelt und zur Kunst würde mich ein rein wissenschaftlicher Beruf nicht ausfüllen, so sehr ich mich auch für die Wissenschaften interessierte.
      Ich hatte auch an Philosophie und Astronomie gedacht. Aber je länger und tiefer ich grübelte, desto schwerer erschien es mir, eine Wahl zu treffen. Unter Astronomie verstand ich die Erforschung der Himmelskörper. So sehr ich den Sternenhimmel liebte, erschien mir die Entdeckung noch unbekannter Planeten nicht aufregend genug. Was hätte ich vom Leben, dachte ich, wenn ich jahrzehntelang in einem Observatorium säße, um zu den Billionen von Sternen noch ein paar neue zu entdecken. Auch gegen das Studium der Philosophie hatte ich ähnliche Bedenken.

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