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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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gratulierte er Mama zu meiner schönen Seele. Ich verliebte mich in diese Seele, die ich mir weiß und strahlend wie die Hostie in der Monstranz vorstellte. Ich sammelte verdienstliche Handlungen. Zu Beginn der Adventszeit teilte Abbé Martin uns Bildchen aus, die das Jesuskind darstellten: Bei jeder guten Tat durchstachen wir die mit violetter Tinte nachgezeichneten Umrisse der Figur. Am Weihnachtstage sollten wir sie dann in die Krippe legen, die im Hintergrund der großen Kapelle schimmerte. Ich erfand alle möglichen Kasteiungen, Opfer, allerlei Formen erbaulichen Verhaltens, damit mein Kärtchen recht viele Löcher aufwiese. Diese Unternehmungen regten zwar Louise auf, aber Mama und die Damen ermutigten mich dazu. Ich trat in einen kindlichen Orden ein, die ‹Engel der Passion›, was mir das Recht gab, ein Skapulier zu tragen, sowie die Pflicht auferlegte, über die sieben Schmerzen Mariä fromme Betrachtungen anzustellen. Entsprechend den jüngsten Instruktionen Pius’  X . bereitete ich mich auf eine Einzelkommunion vor, ich nahm an Exerzitien teil. Ich begriff nicht ganz, weshalb die Pharisäer, deren Namen auf verwirrende Weise dem der Einwohner unserer Hauptstadt ähnlich war, gegen Jesus so sehr geeifert hatten, doch hegte ich für seine Leiden tiefes Mitgefühl. In einem Tüllkleid, mit einer Charlotte aus irischer Spitze auf dem Kopf, nahm ich zum ersten Male die Hostie entgegen. Von nun an geleitete mich Mama dreimal in der Woche zur Kommunion in die Kirche Notre-Dame-des-Champs. Ich liebte das Hallen unserer Schritte auf den Fliesen im Morgengrauen. Beim Weihrauchduft, mit vom Flackern der Kerzen zärtlich verschleiertem Blick genoss ich die Süße der Hingabe zu Füßen des Gekreuzigten, während ich undeutlich schon von der Tasse Schokolade träumte, die mich zu Hause erwartete.
    Diese fromme Gemeinschaft machte die vertrauliche Beziehung zu meiner Mutter noch inniger; sie nahm unbedingt den ersten Platz in meinem Leben ein. Da ihre Brüder eingezogen waren, kehrte Louise zu ihren Eltern zurück, um ihnen bei der Feldbestellung zu helfen. Mit gebranntem Haar, geziert und anspruchsvoll, flößte Raymonde, das neue Mädchen, mir eitel Nichtachtung ein. Mama ging kaum mehr aus, sie empfing wenig Gäste, bekümmerte sich aber unendlich viel um meine Schwester und mich; mich selbst bezog sie in ihr Leben unmittelbarer mit ein als die Jüngere; auch sie war zu Hause die Ältere gewesen, und alle Leute fanden, dass ich ihr sehr ähnlich sei: Ich hatte das Gefühl, sie gehöre mir auf ganz einzigartige Weise.
    Papa kam im Oktober an die Front; ich sehe noch den Schacht der Metro vor mir und wie Mama mit feuchten Augen neben mir herging; sie hatte schöne haselnussbraune Augen, zwei Tränen fielen auf ihre Wangen herab. Ich war tief bewegt. Nie kam mir jedoch ernstlich in den Sinn, dass Papa in Gefahr sein könne. Ich hatte Verwundete gesehen, ich wusste, dass eine Beziehung zwischen Krieg und Tod bestand. Aber dass dieses große Kollektivabenteuer unmittelbar auch mich betreffen könnte, stellte ich mir nicht vor. Wahrscheinlich war ich auch überzeugt, dass Gott speziell meinen Vater beschützen werde: Ich war außerstande, mir das Unglück auszumalen. Die Ereignisse gaben meinem Optimismus recht; nach einem Herzanfall wurde mein Vater in das Lazarett in Coulommiers verbracht, dann dem Kriegsministerium zugeteilt. Er bekam eine andere Uniform und nahm seinen Schnurrbart ab. Etwa zur gleichen Zeit kehrte Louise in unser Haus zurück. Das Leben nahm nun wieder seinen normalen Gang.
    Ich hatte mich endgültig in ein artiges Kind verwandelt. In der ersten Zeit hatte ich mich nur zusammengenommen; meine neue Persönlichkeit aber hatte mir so viel Lob eingetragen, und dieses wiederum hatte mir so viel Genugtuung gegeben, dass ich mich schließlich ganz mit ihr identifizierte; sie wurde künftighin meine einzige wahre Natur. Ich war weniger quirlig, als ich früher gewesen war: Wachstum und Masern hatten etwas Bleichsucht zur Folge. Ich bekam Schwefelbäder und allerlei Stärkungsmittel; ich fiel jetzt den Erwachsenen nicht mehr durch meine Lebhaftigkeit zur Last; andererseits vertrugen sich meine Neigungen gut mit dem Leben, das ich führte, sodass nichts meinen Widerstand weckte. Ergab sich dennoch ein Konflikt, war ich bereit zu fragen, die Sache zu diskutieren. Oft beschränkte man sich darauf, mir zur Antwort zu geben: «Das tut man nicht; wenn ich nein gesagt habe, bleibt es auch bei Nein.» Sogar dann

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