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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mit Deckchen aus Samt, aus Plüsch, aus Spitzen belegt; die in einem kupfernen Cachepot eingekerkerten Aspidistren wirkten niederdrückend auf mich.
    Manchmal ging Tante Lili mit mir aus; ich weiß nicht, welchem Zufall ich es verdankte, dass sie mich mehrmals zum Rennen mitnahm. Eines Nachmittags, als ich an ihrer Seite auf einer Tribüne in Issy-les-Moulineaux saß, sah ich am Himmel Doppel- und Eindecker kreisen. Wir verstanden uns gut. Eine meiner fernsten und nettesten Erinnerungen ist ein gemeinsamer Aufenthalt mit ihr in Châteauvillain, im Departement Haute-Marne, bei einer Schwester von Großmama. Da die alte Tante Alice seit langem schon Tochter und Gatten verloren hatte, siechte sie, noch dazu taub geworden, in einem großen, von einem Garten umgebenen Hause allein dahin. Die kleine Stadt mit ihren engen Gassen und niedrigen Häusern sah aus, als stamme sie aus meinem Bilderbuch; die mit kleeblatt- und herzförmigen Öffnungen versehenen Fensterläden wurden mit Riegeln an der Wand befestigt, die wie Männchen gestaltet waren; die Puffer waren Hände; ein imposantes Tor führt auf einen Park, in dem Damhirsche ästen; Heckenrosen rankten sich um einen steinernen Turm; die alten Fräulein in diesem kleinen Ort gaben sich viel mit mir ab. Mademoiselle Elise schenkte mir ein Lebkuchenherz. Mademoiselle Marthe besaß eine Maus mit magischen Fähigkeiten, die in einem Glaskästchen saß: Man steckte in einen Schlitz ein Papptäfelchen, auf dem eine Frage stand; die Maus lief im Kreise herum und stieß mit dem Schnäuzchen gegen ein Fach: Dort fand man die auf ein Stückchen Papier gedruckte Antwort. Was mich am meisten in Erstaunen setzte, waren die mit Kohlezeichnungen versehenen Eier, die Doktor Masses Hühner legten; ich holte sie mit eigenen Händen aus ihrem Versteck hervor, was mir später erlaubte, einer skeptischen kleinen Freundin fest entgegenzuhalten: «Ich habe sie doch selber eingesammelt!» In Tante Alices Garten liebte ich die sorglich geschnittenen Eiben, den frommen Buchsbaumduft und unter einer Weißbuche ein Objekt, das auf ähnlich köstliche Weise fragwürdig war wie etwa eine Uhr aus Fleisch: einen Felsen, der ein Möbel war, einen steinernen Tisch. Eines Morgens ging ein Gewitter nieder; ich amüsierte mich gerade mit Tante Lili im Speisezimmer, als der Blitz einschlug – ein Ereignis, das mich mit Stolz erfüllte. Immer wenn mir etwas widerfuhr, war ich umso stärker von meiner Wichtigkeit überzeugt. Auch eine noch subtilere Erfahrung wurde mir zuteil: Die Wand des Wirtschaftsgebäudes war mit Clematis bewachsen; eines Morgens beorderte mich Tante Alice streng zu sich; eine Blüte hatte am Boden gelegen; sie sagte mir auf den Kopf zu, ich hätte sie abgepflückt. Die Blumen im Garten anzurühren war ein Verbrechen, über dessen Schwere für mich keinerlei Zweifel bestand; ich hatte es jedoch nicht getan und wies alle Schuld von mir. Tante Alice glaubte mir nicht. Tante Lili aber trat temperamentvoll für mich ein. Sie repräsentierte in diesem Fall meine Eltern und hatte allein über mich Recht zu sprechen; Tante Alice mit ihrem alten, fleckigen Gesicht kam mir wie eine der bösen Feen vor, die die Kinder verfolgen; ich wohnte mit Behagen dem Kampfe bei, der zu meinem Nutzen von den Kräften des Guten gegen Irrtum und Ungerechtigkeit ausgefochten wurde. In Paris ergriffen Eltern und Großeltern aufgebracht meine Partei, ich genoss den Triumph meiner Tugend.
    Beschützt, verhätschelt, angenehm unterhalten durch die unaufhörliche Neuheit aller Dinge, war ich ein ungemein vergnügtes kleines Ding. Dennoch stimmte etwas nicht, da ich fürchterliche Wutanfälle bekam, bei denen ich mich, rot-violett im Gesicht und wie von Krämpfen befallen, auf den Boden warf. Ich bin drei Jahre alt, wir essen auf der besonnten Terrasse eines großen Hotels – es war in Divonne-les-Bains – zu Mittag; ich bekomme eine rote Eierpflaume und fange an, die Haut davon abzuziehen. «Nein», sagt Mama; ich werfe mich brüllend auf den Zementboden nieder. Ich heule den ganzen Boulevard Raspail entlang, weil Louise mich vom Square Boucicaut weggeholt hat, wo ich Sandkuchen backte. In solchen Augenblicken bin ich weder für Mamas unheilverkündende Miene noch für die strenge Stimme Louises oder das außergewöhnliche Dazwischentreten von Papa empfänglich. Ich brüllte damals so laut und so lange, dass ich im Luxembourggarten des Öfteren als misshandeltes Kind angesehen wurde. «Die arme Kleine!», sagte

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