Memoria
dortige Wachmann war erschossen worden. Die Geländewagen waren ungehindert auf das Areal gefahren und hatten vor einem der Hauptlabors gehalten. Ein halbes Dutzend bewaffnete Männer waren ohne Hast in das Gebäude marschiert, hatten mit Maschinengewehren alles kurz und klein geschossen, zwei Forscher in ihre Gewalt gebracht und sie entführt. Durch puren Zufall waren sie beim Herauskommen auf einen weiteren Wachmann gestoßen. In der Schießerei, die daraufhin ausbrach, waren der Wachmann und ein Gast des Instituts, der in das Kreuzfeuer geriet, getötet worden. Drei weitere Außenstehende waren verletzt worden, einer von ihnen schwer.
Die Entführer und ihre Opfer waren verschwunden. Bisher waren keine Lösegeldforderungen eingegangen.
Corliss rechnete auch nicht damit.
Die Ermittler am Tatort hatten bereits früh gemutmaßt, dass hinter den Entführungen und dem Blutvergießen Drogendealer steckten. Corliss war derselben Überzeugung. Wenn Wissenschaftler wie die beiden entführten Männer in einem Kugelhagel aus ihren Labors verschleppt wurden, steckten dahinter nicht Pharmakonzerne wie Pfizer oder Bristol-Myers. Erst recht nicht, wenn diese Wissenschaftler über Fähigkeiten verfügten, die im wilden Grenzland des Geschäfts mit illegalen Drogen hoch geschätzt waren.
Einem Grenzland, das sich von Tag zu Tag veränderte, und nicht zum Guten.
Ursprünglich war es hauptsächlich darum gegangen, Leute mit der nötigen technischen Expertise zu bekommen, die bei der massenhaften Herstellung beliebter synthetischer Drogen helfen konnten, Chemiker, die beispielsweise Methamphetamin aus seinen Vorläufersubstanzen Ephedrin oder Pseudoephedrin synthetisieren konnten, ohne sich dabei selbst in die Luft zu sprengen. Als strengere Regulierungen den Verkauf der chemischen Grundstoffe erschwerten – sehr zum Unmut der Lobbyisten der Pharmaindustrie –, mussten Alternativen gefunden werden. Corliss erinnerte sich, wie er vor ein paar Jahren an der Festnahme eines amerikanischen Chemikers in Guadalajara beteiligt gewesen war, damals, als er, Corliss, die DEA -Niederlassung in Mexiko-Stadt leitete. Der Mann, ein verbitterter arbeitsloser Chemielehrer, arbeitete für die Kartelle und hatte sich ein kleines Vermögen verdient, indem er herausfand, wie man aus legalen, frei verkäuflichen Grundstoffen die Vorläufersubstanzen von Meth herstellte. Die Sonderzulagen – Bargeld, Frauen, Alkohol und, ja, Drogen – waren ein zusätzlicher Bonus und nicht zu vergleichen mit dem Alltag an seiner örtlichen Highschool, wo er Schülerarbeiten korrigieren und sich vor Springmessern in Acht nehmen musste.
Abgesehen von der eigentlichen Entwicklung und Herstellung der Drogen waren Wissenschaftler auch von unschätzbarem Wert, wenn es darum ging, die Substanzen auf phantasievolle Weise über die Grenzen zu schmuggeln. Einer von Corliss’ Einsatztrupps hatte kürzlich eine Lieferung Instant-Kartoffelpüree aus Bolivien abgefangen. Die Wissenschaftler der Behörde hatten Wochen gebraucht, um herauszufinden, dass darin zwei Tonnen Kokain chemisch gebunden waren. Einen Monat später hatte eine Lieferung Sojaöl ihnen eine ähnliche Überraschung beschert.
Chemikalien hatten mysteriöse, verborgene Eigenschaften. Wenn man sie entdeckte und einfallsreich nutzte, konnte das für die Kartelle die Welt verändern – und Milliardenprofite einbringen.
Daher der Bedarf an Experten, die über die nötigen technischen Kenntnisse verfügten, um so etwas zu bewerkstelligen.
Und daher die Entführungen.
Bisher hatten die Ermittler kaum Anhaltspunkte. Es gab keine Verdächtigen, und aus den Zeugenaussagen und den Aufzeichnungen der Überwachungskameras ging nicht viel mehr hervor, als dass die Täter weiß und kräftig gebaut waren, denn die Männer hatten Skimasken und Mützen getragen. Ein Zeuge war allerdings weitergegangen und hatte sie als «Motorradgang-Typen» bezeichnet. Das war für sich genommen kein großer Durchbruch hier in Südkalifornien, wo Motorradgangs zahlreich waren und im Drogenhandel eine große Rolle spielten – mit ihnen hatte der Meth-Boom erst richtig angefangen –, aber es war in anderer Hinsicht bedeutsam.
Die Spielregeln hatten sich verändert.
Etwa im Lauf des letzten Jahrzehnts hatten die mexikanischen Kartelle den Drogenhandel in den gesamten Vereinigten Staaten an sich gerissen und neue Standards extremer Gewalt eingeführt. Mit ihrer bisherigen Rolle als wichtigster Marihuanalieferant der Nation gaben
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