Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
habe schon Fälle erlebt, bei denen die entscheidenden Dinge zwei, fünf oder sogar zehn Jahre, nachdem man eigentlich aufgehört hatte, sich damit zu befassen, aufgetaucht seien.
Bedeute dass, dass sie aufgehört hätten, an Henriks Fall zu arbeiten?, will Ebba wissen. Dass sie nur dasäßen und warteten? Keinesfalls, versichert Inspektor Barbarotti. Keinesfalls.
Ebba bedankt sich und legt den Hörer auf. Sie bleibt eine Weile regungslos sitzen und schaut aus dem Fenster hinaus. Der Rasen muss geschnitten werden. Kristoffer hatte versprochen, es letztes Wochenende zu tun, aber irgendetwas kam dazwischen. Immer kommt irgendetwas dazwischen, wenn es um Kristoffer geht. Aber es ist ihr auch nicht so wichtig. Das Grundstück läuft auf einen schmalen Waldstreifen zu, sie erinnert sich, dass Henrik Angst vor den Bäumen hatte, als er noch richtig klein war. Zwei oder drei Jahre, die Bäume und die Dunkelheit. Es ist eine kurz aufblitzende Erinnerung und außerdem nicht besonders repräsentativ. Henrik war ein kecker Junge, hatte eigentlich weder vor dem Teufel noch irgendwelchen Geistern Angst, da war Kristoffer viel zögerlicher. Die Plastiktüten schaukeln in ihr, es tut so jämmerlich weh, aber sie kann nicht länger sitzen bleiben, eine gute Mutter bleibt nicht sitzen und wartet auf ihren verlorenen Sohn, eine gute Mutter geht hinaus mit einem Licht und sucht nach ihm. So soll es sein.
Doch wo? Wohin soll Ebba Hermansson Grundt ihre Schritte lenken, und wo soll sie ihre Suche beginnen?
In Kymlinge? Ja, das wäre natürlich am logischsten, wenn es das Elternhaus noch gäbe. Aber dem ist nicht mehr so. Karl-Erik und Rosemarie haben die Allvädersgatan am ersten März verlassen und ihr neues Leben in Spanien angetreten, so sehen die Tatsachen aus. Sie schlagen im Herbst ihres Lebens eine neue Seite auf. Ebba bekommt jede Woche eine Ansichtskarte und einen Telefonanruf, die Karte von der Mutter, den Anruf von ihrem Vater. Die Sonne scheint immer, sie sitzen immer draußen auf der Terrasse und schauen auf die Berge und einen Streifen Meer, sie trinken süßen Wein aus Málaga mit Eiswürfeln, ja, das ist wirklich ein ganz anderes Leben, in das sie sich da gestürzt haben. Wäre da nicht die Sache mit Walter und Henrik, es wäre wirklich das Paradies, wie Karl-Erik meint. Ob Rosemarie der gleichen Meinung ist, kann Ebba nicht richtig herausfinden, aber sie gibt sich diesbezüglich auch keine besondere Mühe. Ihre Mutter und ihr Vater sitzen da unten in der Sonne, sie schlürfen Wein und versuchen, ihre Kinder, ihr Kymlinge und ihr altes Leben zu vergessen, so ist es nun einmal, und das ist doch eigentlich eine merkwürdige Entwicklung, die da vor sich gegangen ist. Wer hätte vor einem Jahr ahnen können, dass die Familie Hermansson einmal so aussehen würde? Im August letzten Jahres war noch alles normal, und jetzt … jetzt?, denkt Ebba. Wie zerbrechlich das Leben doch ist, wir wissen so wenig darüber, was der nächste Tag wohl bringt. Das nächste Jahr.
Wie ein Ei, das aus dem Kühlschrank fällt und auf dem Küchenfußboden zerbricht, so zerbrechlich sind unsere Kinder.
Nein, sie will nicht zurückfahren und anfangen, in Kymlinge herumzuwühlen, das versteht sich von selbst. Das wäre sinnlos. Und dennoch würde sie es am liebsten wieder auferstehen lassen, diese Gemeinschaft, die direkt vor dem Geburtstag herrschte, damals, als noch alle dort waren – denn wenn es tatsächlich so ist, denkt Ebba, dass die Dinge zusammenhängen, dass es eine funktionierende Ursachen-Wirkung-Kette im Leben gibt, dann muss der Keim zu dem, was anschließend passiert ist – was immer das auch sein mag – sich bereits am ersten Abend dort befunden haben. Am zweiten vielleicht auch, an dem Walter zwar bereits verschwunden war, aber Henrik sich immer noch vor Ort befand. Es muss etwas in der Luft gelegen haben, es muss möglich sein, dies zu fassen zu bekommen, und wenn es nur die Spur irgendeiner Bewegung oder welcher Gedanken oder welcher Beweggründe auch immer ist, die in diesen Räumen an diesen Tagen im Dezember vorhanden war. Für einen aufmerksamen Beobachter muss es möglich gewesen sein, sie zu verstehen.
Oder? Wie ist es denn tatsächlich gewesen? Wusste Henrik bereits, als sie im Auto auf dem Weg nach Kymlinge saßen, dass er in dieser Nacht weggehen wollte? Wusste Walter es? Gab es einen Plan? Gibt es einen Zusammenhang? Wer war diese merkwürdige Jenny, die die Polizei offenbar nie zu fassen bekommen hatte? War sie
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