Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
nur erfunden? Und wenn ja, warum? Was hatte Henrik vor seiner Mutter verbergen wollen, es musste Dinge in seinem Leben geben, von denen sie nichts wusste. Was war während seines ersten Semesters in Uppsala passiert? Es musste da etwas gegeben haben …
Immer die gleichen Fragen, das gleiche sterile Herumtasten, es ist merkwürdig, wie schnell und leicht die Synapsen in ihrem Gehirn von diesem Virus zerstört werden. So ein Gefühl muss es sein, wenn es dem Ende zugeht, denkt Ebba Hermansson Grundt, genau so eins. Sinnlose, verwirrende Fragen und keine Antwort. So empfindlich sind wir, wenn unser Bewusstsein schließlich überdreht, wenn unsere eigene Eierschale zerbricht – aber hier geht es ja nicht um sie oder ihr Bewusstsein. Also weg damit, weg mit diesen verzärtelten Betrachtungen, es geht um Henrik, der in ihrem Inneren schreit, ob nun zerstückelt oder nicht, hängend an … nein, jetzt drehen ihre Gedanken wieder durch. Wo hatte sie angefangen? Was hatte sie gerade eben vorausgesetzt? Sie schaut wieder auf den wuchernden Rasen draußen, auf den Garten, die zerfallene Sonnenuhr, auf die der vorherige Besitzer des Hauses, der alte Herr Stefansson, so ungemein stolz gewesen war, die dunklen Bäume, den sich ankündigenden Herbst … und versucht, diesen optimistischen Gedankenfaden zu fassen zu bekommen, den sie doch erst vor kurzem in Besitz gehabt hatte. Was war es noch gewesen?
Die Sache in die eigenen Hände nehmen, das war es. Den Abend, bevor alles geschah, wieder herstellen. Handeln, agieren, handeln. Genau das. Sie steht auf und geht in die Küche. Das Telefon klingelt, doch sie lässt es klingeln. Kristina, denkt sie. Ich muss mit meiner Schwester sprechen. Kristina, Walter und Henrik sind an dem Abend noch aufgeblieben und haben sich unterhalten. Vielleicht hat Kristina eine Ahnung von etwas … nein, das hätte sie natürlich dann schon der Polizei erzählt. Und uns anderen auch. Aber es kann Dinge gegeben haben … nein, nicht Dinge, Zeichen … Zeichen, die ihr nicht aufgefallen sind, Zeichen, die dieser begabte oder einfach nur schweigsame Polizeibeamte nicht hat aufspüren können … Zeichen, die nur eine Mutter verstehen und deuten kann, ein Wort, etwas, das er gesagt hat, etwas in seinem Verhalten … etwas zwischen Walter und Henrik sogar, das vielleicht im Nachhinein an die Oberfläche treten kann, in einem Gespräch zwischen zwei Schwestern, zwei betroffenen Schwestern, warum eigentlich nicht?
Sie musste mit ihrer Schwester sprechen, ganz einfach. Irgendwo musste man anfangen, und man sollte mit dem Einfachen und Natürlichen anfangen.
Einfach und natürlich war es zwischen Ebba und Kristina natürlich nie gewesen, aber das durfte für den Moment keine Rolle spielen.
Innerhalb von zwanzig Minuten hat sie eine Fahrkarte für die Bahn und ein Hotelzimmer für drei Nächte in Stockholm gebucht. Der Zug geht noch am selben Nachmittag, und natürlich hätte sie bei Kristina und Jakob übernachten können, aber das will sie nicht. Sie will sich Kristina vorsichtig nähern, es gibt einen zu großen Abstand zwischen ihnen, schon seit sie klein gewesen sind, vielleicht ist das jetzt die Gelegenheit für eine Versöhnung – aber langsam vorzugehen ist immer noch am besten. Vorsicht ist eine Tugend. Sie ruft auch nicht vorher an, es genügt, wenn sie morgen früh vom Hotel aus von sich hören lässt. Sie will nicht, dass Kristina herumlaufen muss, sich Gedanken macht, Pläne entwirft und im Voraus nach Formulierungen sucht. Wenn das Gedächtnis einem zu großen Druck ausgesetzt wird, können diese flüchtigen Erinnerungen sich verkapseln.
Endlich, denkt Ebba Hermansson Grundt und geht unter die Dusche. Endlich etwas.
Eine Stimme in ihr warnt, dass aus dieser Reise nichts Gutes herauskommen wird. Sie und Kristina haben nie miteinander reden können, sie waren immer wie Öl und Wasser, aber Ebba stellt sich taub. Sie hört auf gar keine Stimmen, die geplante Fahrt und Aktion geben ihr die Kraft dazu. Natürlich muss eine Schwester der anderen in der Stunde der Not zu Hilfe eilen. Die Plastiktüten hängen ruhig in ihrem inneren Dunkel, sie packt eine Tasche, schreibt für Leif und Kristoffer eine Nachricht.
Nichts über den Zweck oder so, sie würden es ja doch nicht verstehen, nur dass sie nach Stockholm gefahren ist, um ihre Schwester zu treffen.
Ein segensreicher Herbstregen zieht genau in dem Moment auf, als sie zum Bahnhof gehen will. Sie bestellt ein Taxi. Sie hat das Gefühl, nie
Weitere Kostenlose Bücher