Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
denn darum geht es nicht. Ebba will nicht gesund werden.
Sie will zurück zu ihrem Sohn. Wenn er tot ist, dann will sie seinen Körper zurückhaben und ihn auf dem Friedhof begraben.
Wenn jemand ihn umgebracht hat, dann will sie denjenigen in die Finger kriegen.
So einfach ist das. Alles andere interessiert sie nicht die Bohne.
Weder Leif noch Kristoffer.
Stellt keine Ansprüche an mich, denkt sie. Sie sagt es nicht, aber sie denkt es. Bleibt ihr, wo ihr seid, Henrik und ich bleiben in unseren Kreisen, und respektiert freundlicherweise die Spielregeln. Es ist nicht Ebba selbst, die diese Regeln verfasst hat, sie bilden ein Fundament, das sie aus eigener Kraft und eigenem Willen nicht verlassen kann und will. Sie und Henrik gehören zusammen, haben immer zusammengehört, das ist keine Frage irgendwelcher Bevorzugung, nicht die Frage, ein Kind dem anderen vorzuziehen, ganz und gar nicht. Leif und Kristoffer gehören auf die gleiche selbstverständliche Art und Weise zusammen. So ist es immer gewesen. Wenn sie zu viert Whist oder Monopoly gespielt haben, wenn sie Essen gekocht oder den Abwasch gemacht haben. Beim Skifahren. Ebba und Henrik, Leif und Kristoffer, und deshalb … deshalb hat der verschwundene Sohn ein größeres, ein unendlich viel größeres Loch in der Seele seiner Mutter hinterlassen als in der seines Bruders und seines Vaters. Das ist eine Selbstverständlichkeit, Leif und Kristoffer wissen das genauso gut wie sie selbst. Sie reden nicht darüber, das ist nicht nötig.
Aber es tut so weh, von diesen Plastiktüten zu träumen, die an ihrem Schlüsselbein hängen, die in diesem Hohlraum des Mangels in ihr hin und her schwingen, der mit jeder Stunde, die verstreicht, nur größer zu werden scheint. Jeden Tag, jede Woche und jeden Monat, an diesem Montag während der Hundstage ist es 244 Tage her, seit sie vierzig wurde, und jeder Tag, jeder einzelne dieser unerträglichen Tage, die seither vergangen sind, ist so unumgänglich allen anderen gleich.
Ich weiß, dass ich wahnsinnig bin, denkt sie ab und zu, aber es ist ein vollkommen uninteressantes Etikett. Leif und Kristoffer betrachten sie inzwischen mit einer anderen Form der Aufmerksamkeit als vorher, das sieht sie, sie registriert es, aber es spielt keine Rolle. Nur eine einzige Sache spielt eine Rolle. Sie muss ihren Sohn zurückbekommen. Sie muss … und wenn das nicht geht, dann muss sie zumindest wissen, was mit ihm geschehen ist. Die Ungewissheit ist schlimmer als alles andere.
Die Ungewissheit und die Untätigkeit.
Und die Sache in die eigenen Hände nehmen?, überlegt Ebba Hermansson Grundt, und das ist zumindest einmal ein einigermaßen neuer Gedanke: nichts, was es schon immer gegeben hat während all dieser Tage, während all dieser Dunkelheit.
Dass sie selbst etwas tun muss. Dass die Lösung das Einzige ist, was verhindern kann, dass dieser Hohlraum wächst.
Denn Gott hilft nur denen, die sich selbst helfen. Diese Wahrheit pulsiert bereits seit einigen Tagen in ihr, und an diesem Morgen, als sie an einem blassen, leicht bewölkten Augusttag aufsteht, weiß sie, dass es Zeit ist, damit zu beginnen. Eine Mutter sucht ihren verlorenen Sohn, darum geht es. Eine Mutter und ein Sohn. Und nichts anderes.
Den Vormittag über telefoniert sie mit diesem Polizeibeamten. Sie kann sich noch ziemlich deutlich an ihn aus Kymlinge erinnern. Ein Mann mittleren Alters mit einem leicht schwermütigen Gesichtsausdruck. Lang und mager, er hat einen guten Eindruck auf sie gemacht. Vielleicht war er sogar intelligent, aber so etwas ist bei schweigsamen Menschen nur schwer auszumachen.
Auf jeden Fall hat er nicht viel zu erzählen. Die Ermittlungen gehen weiter, aber er macht kein Geheimnis daraus, dass nicht besonders viel Energie auf sie verwandt wird. Aber es ist etwas in seiner Stimme, das dennoch Vertrauen einflößt. Man sei allem nachgegangen, was nur irgendwie denkbar war, erklärt er, doch es habe zu keinem Ergebnis geführt. Er persönlich habe mit mehr als hundert Menschen gesprochen, die in irgendeiner Art und Weise eine Verbindung zu Henrik oder Walter hatten – doch das Rätsel, was an diesen Dezembertagen geschehen ist, bleibt weiterhin ebenso ungelöst, wie es von Anfang an war. Das sei natürlich bedauerlich, das sei äußerst bedauerlich, aber so sehe es nun einmal aus. Es komme vor, dass man in derartige Situationen gerate, was aber keinesfalls bedeute, dass man die Hoffnung aufgeben müsse. Gottes Mühlen mahlen langsam, er
Weitere Kostenlose Bücher