Menschen und Maechte
China angesehen werden. Die Beunruhigung durch Deutschland ist trotz seiner Teilung und trotz der Stationierung starker sowjetischer Streitkräfte im Zentrum Europas noch immer vorhanden. Da sie zugleich ein Instrument zur Disziplinierung der Polen ist, ist sie kunstvoll am Leben gehalten worden. Für den Fall, daß sich je die Gelegenheit bieten sollte, die Bundesrepublik zu isolieren, dient die Warnung vor Deutschland auch zur Verunsicherung der Franzosen und anderer Völker in Westeuropa.
Die tiefe Besorgnis angesichts einer möglichen Unterlegenheit gegenüber den USA bleibt eine Hauptantriebskraft für die gewaltige Raketen- und Marinerüstung der Sowjetunion. Die Sorge über China fällt im Vergleich dazu weniger ins Gewicht, aber auch sie wird deutlich empfunden; der Anlaß war die für Moskau zunächst unfaßbare Entwicklung eines kommunistischen Staates zu politischer Eigenständigkeit, was aller Doktrin widersprach. Aber wahrscheinlich spielt die Tatsache der viermal stärkeren Bevölkerungszahl Chinas eine größere Rolle als die ideologische Unabhängigkeit
Beijings. Ein unterschwelliger Affekt gegen die gelbe Rasse kommt hinzu; eine versteckte Aggressivität gegen den fremden Koloß war schon in der Epoche scheinbarer Harmonie nicht zu übersehen. Die Volksrepublik China wird in Moskau mit Recht als künftige Weltmacht empfunden; entsprechend stark ist der sowjetische Aufmarsch konventioneller und nuklearer Streitkräfte an der 7000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze.
Die weitgehende Kontinuität russischer Expansion in der Geschichte zu erkennen bedeutet nicht, an geopolitische Determination zu glauben. Es scheint sich eher um eine politisch-kulturelle Tradition zu handeln, die das Sendungsbewußtsein, welches ursprünglich von der russisch-orthodoxen Kirche ausging und später von der KPdSU aufgenommen und fortgesetzt wurde, nie aufgegeben hat. Es ist noch nicht zu erkennen, ob es unter Gorbatschow zu einer wesentlichen, bleibenden Veränderung dieser alten Tradition kommen kann.
Sowjetische Strategie und deutsche Interessen
Wer als westdeutscher Politiker die Interessen der deutschen Nation verfolgen will, muß sich Klarheit verschaffen über die Interessen und Tendenzen unserer Nachbarn in West und Ost. Er muß sich an deren Stelle versetzen und die Lage mit ihren Augen sehen, wenn er den eigenen Handlungsraum realistisch abschätzen will.
Als ich 1974 als neugewählter Bundeskanzler vor meiner ersten Moskaureise stand, gab es kaum eine Regierung in Europa, welche die Teilung Deutschlands ehrlich bedauerte. Eher war das noch in Washington oder im fernen Beijing der Fall. Aber ein gewisses Verständnis für die deutsche Lage konnte Washington dennoch nicht zu einer Politik bringen, die konkret auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten gerichtet gewesen wäre, und Beijing verfügte ohnehin über keinerlei Handlungsmöglichkeiten in dieser Frage – nicht einmal theoretisch.
Die Welt schien also mit der Spaltung Deutschlands weitgehend zufrieden zu sein; unlogischerweise war sie weit weniger zufrieden
mit der Spaltung Europas. Wir Deutschen hatten nach jahrzehntelangen vergeblichen Hoffnungen auf die Wiedervereinigung am Ende gelernt, ohne allzu großes Jammern und ohne peinliches Selbstmitleid, aber auch ohne nationales Auftrumpfen mit der Teilung Deutschlands zu leben. Allerdings haben wir weder damals noch heute den Wunsch oder den Willen aufgegeben, eines Tages wieder unter einem gemeinsamen Dach zu leben, auch wenn wir wissen, daß jener Tag in weitentfernter, unüberschaubarer Zukunft liegt und daß es bis dahin darauf ankommt, so gut es irgend geht, den Zusammenhang der Nation zu wahren.
Wir wußten und wissen: Die Wahrung des Zusammenhalts der deutschen Nation ist angesichts der Teilung Europas nicht gegen die Sowjetunion möglich. Unsere Politik gegenüber Moskau muß darauf gerichtet sein, jenen Willen zur Aufrechterhaltung unserer nationalen Identität und zur Erleichterung des Schicksals der zwangsweise in einen kommunistischen Staat eingepferchten Deutschen den Sowjets akzeptabel zu machen.
Die Mittel der Bundesrepublik sind in dieser Hinsicht sehr beschränkt. Bonn kann der Sowjetunion nicht so weit entgegenkommen, daß seine Gesellschaftsordnung russisch-sowjetisch beeinflußt wird. Die Freiheit und Würde der Person auf der einen, die freiheitliche Gesellschafts- und Staatsordnung auf der anderen Seite, dies zu bewahren ist für jede Bundesregierung ja gerade
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