Menschen und Maechte
eingeschränkten Völkerrecht innerhalb des sozialistischen Lagers. Natürlich teilen nicht alle sowjetischen Politiker und Strategen die Überzeugung, daß sie den Leninschen Auftrag erfüllen, Moskau zum Zentrum einer historisch-materialistischen weltweiten Umwälzung zu machen – womit übrigens Marx auf den Kopf gestellt wäre. Manche Politiker und Diplomaten Moskaus dürften in puncto Weltrevolution sehr pragmatisch, vielleicht sogar zynisch denken und im Selbstverständnis der sowjetischen und anderer kommunistischer Parteien vorzugsweise erwünschte Instrumente der sowjetischen Außenpolitik sehen. Es fällt schwer, sich die oft hochgebildeten und sensiblen Liebhaber westlicher Kunst unter den sowjetischen Diplomaten als überzeugte Gläubige einer Weltreligion vorzustellen; wohl aber sind sie pflichtbewußte Diener ihres Staates und seiner Interessen.
Ich zweifelte 1974 nicht an dem weltkommunistischen Sendungsbewußtsein Michail Suslows oder an der Orthodoxie weniger wichtiger Gehilfen wie Ponomarjow. Männer wie Breschnew oder
Kossygin und Tichonow mögen unter der großen Last ihrer täglichen Aufgaben wenig Zeit und Muße zum geschichtlichen oder philosophischen Nachdenken gehabt haben. Aber sie waren von der Legitimität der Ausdehnung ihrer Herrschaft überzeugt – eine Überzeugung, die den Großrussen im Verlauf ihrer Geschichte selbstverständlich geworden ist. Dabei haben natürlich die Jahrhunderte der Fremdherrschaft von Tataren und Mongolen eine wichtige Rolle gespielt. Seit der Zerstörung der Stadtrepubliken, wie zum Beispiel Nowgorods durch Iwan III., kennt Rußland die absolutistische Herrschaftsform in allen ihren Eigenarten und Auswirkungen; sie reichten von der Ermordung von Thronfolgern über Leibeigenschaft bis zur Verbannung nach Sibirien. Kaum jemals haben breite russische Gesellschaftsschichten persönliche Freiheit erlebt; vielmehr hat es fast immer entrechtete Schichten und Klassen gegeben. Deshalb erscheint einem hart arbeitenden Manne wie Gromyko die heutige Gesellschaftsform seines Landes wahrscheinlich als durchaus normal, obgleich er zum Beispiel die prinzipiell und kategorisch freiere amerikanische Gesellschaftsordnung durchaus kennt.
Mit einem Wort: Es hat wenig Sinn, die Politik der Russen – oder der Sowjets – immer wieder mit heutigen französischen, englischen oder amerikanischen Maßstäben zu messen; wir werden sie damit kaum beeinflussen. Noch weniger wird man sie mit moralischen Vorwürfen und Beschuldigungen beeinflussen; im Gegenteil: dies kann in Moskau zu einem verbissenen Rückzug auf den russischen Messianismus führen. Es wird über viele Generationen hinweg einer engen Berührung mit der westlichen sozialen und politischen Kultur bedürfen, um bei den Russen eine Einsicht in die Grundwerte westlich erzogener Menschen zu erreichen. In der Zwischenzeit ist es notwendig, daß der Westen sich vor der weiteren Ausdehnung russisch-sowjetischer Macht schützt. Denn heute ist Rußland nicht nur – wie es der geniale französische Denker Tocqueville schon um 1830 vorausgesehen hat – zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika eine der beiden nach dem Zweiten Weltkrieg übriggebliebenen Weltmächte, sondern die einzig übriggebliebene expansionistische Weltmacht. Es ist offensichtlich
notwendig, daß der Westen festhält an dem Kernsatz jener Gesamtstrategie, die George F. Kennan 1947 für die USA formuliert hat: »Das Hauptelement jeder amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion muß bestehen in einer langfristigen, geduldigen, aber zugleich festen und wachsenden Eindämmung der expansiven russischen Bestrebungen.« Wenn er diese Gesamtstrategie im Auge behält, dann hat der Westen den Vorteil, daß die sowjetische Strategie für ihn weitgehend – wenn auch keineswegs vollkommen – berechenbar bleibt.
Die alten Richtungen der russischen Expansion sind die gleichen geblieben; seit Beginn der sechziger Jahre aber sind neue hinzugekommen. Sie haben sich aus den ökonomischen und politischen Nöten der aus kolonialer Herrschaft entlassenen oder befreiten Staaten der Dritten Welt ergeben, genauer gesagt: aus den Chancen, welche sich aus dieser neuen Situation für eine sowjetische Einflußnahme eröffneten. Der Ausbau der Handelsflotte und vor allem der ungewöhnlich zielstrebige Aufbau einer gewaltigen Hochsee-Kriegsmarine auf allen Meeren der Welt durch Admiral Gorschkow – der sich dabei an den seestrategischen Lehren von Mahan, aber auch an der
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