Menschen und Maechte
in Mitteleuropa mitzuwirken? Wo liegen die Möglichkeiten, Moskau wenigstens die Aufrechterhaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls und die Erleichterung der Verbindung zwischen den beiden Teilen der deutschen Nation akzeptabel zu machen? Es gibt nur zwei Felder, auf denen einerseits die sowjetischen Interessen und andererseits die westdeutschen Handlungsmöglichkeiten groß genug sind, um Fortschritte zu erreichen. Da ist einmal die Minderung der sowjetischen Besorgnis über die Deutschen, besonders hinsichtlich der 1945 etablierten Grenzen in Ostmitteleuropa. Da ist zum anderen das Gebiet des wirtschaftlichen Austauschs zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion. Auf beiden Feldern bedarf es – angesichts des russisch-sowjetischen
Mißtrauens – der Durchsichtigkeit und der Stetigkeit deutscher Politik. Auf beiden Feldern bedarf es aber auch der Gegenseitigkeit: gegenseitiger Gewaltverzicht im politisch-militärischen Bereich und beiderseitiger Vorteil beim Austausch von deutschen Investitionsgütern gegen sowjetische Rohstoffe.
Es waren diese Erkenntnisse, von denen wir Sozialdemokraten ausgegangen waren, als wir 1969 die Bundesregierung der sozial-liberalen Koalition bildeten und durch sie eine neue Ostpolitik ins Werk setzten. Das Vertragspaket, das wir schließlich zustande brachten, war nicht einfach zu erreichen gewesen, weder bilateral im Verhältnis zu Moskau – besonders im Hinblick auf unsere Entschlossenheit, uns das Ziel der Einheit Deutschlands nicht abhandeln zu lassen – noch multilateral im Verhältnis sowohl zu Moskau als auch zu Washington, Paris und London. Hier hatten wir viele Bedenken gegen das Viermächteabkommen über Berlin aus dem Weg zu räumen, ohne welches für uns das Vertragspaket nicht akzeptabel gewesen wäre.
Als Kabinettsmitglied hatte ich – wie schon in den sechziger Jahren – an der geistigen Vorbereitung der neuen Ostpolitik mitgewirkt. Als Bundeskanzler war ich fest entschlossen, sie kontinuierlich fortzusetzen und auszubauen, und die Sowjets wußten das. Sie konnten allerdings wohl kaum ermessen, wie sehr mir dabei meine eigene geschichtliche, literarische und musikalische Erziehung zugute kam.
Wir Hanseaten aus Hamburg und Lübeck sind uns ja der langen Jahrhunderte des Handelsaustausches mit Nowgorod, Pleskau, Dorpat und Reval sehr bewußt. Diese Wirtschaftsverbindungen reichen weit in die Zeit vor Iwan IV. zurück, und auch nachdem die Hansestädte ihre ursprüngliche Bedeutung verloren hatten, waren die Beziehungen immer wieder belebt worden, nicht zuletzt durch Peter den Großen. Wir Hamburger waren durch russische Truppen von der harten napoleonischen Zwangsherrschaft befreit worden; als kleiner Junge hatte ich von meinem Großvater noch die Geschichten »Ut de Franzosentid« gehört. In der Schulzeit hatte ich nicht nur Turgenjew und Dostojewski kennengelernt, sondern auch Puschkin, Tolstoi, Tschechow und Lermontow; nach dem Kriege
hatte ich Majakowski, Gorki, Scholochow, Pasternak und Solschenizyn gelesen. Ich war angezogen von der »russischen Seele«, wie sie mir in den Werken dieser Dichter begegnet war und wie sie Gerhart Hauptmann und Thomas Mann gefeiert hatten.
Der Krieg in Rußland hatte mich die grenzenlose Weite der russischen Ebenen erleben lassen, in der jene Romane und Erzählungen spielen. In den sechziger Jahren waren mir in der Tretjakow-Galerie in Moskau und in der Eremitage von Leningrad die Menschenmengen aufgefallen, die sich vor den Werken der europäischen Malerei drängten. Ich konnte mir die Musik Europas ohne die großen Russen überhaupt nicht vorstellen, nicht ohne Tschaikowski und Mussorgski, nicht ohne Schostakowitsch und Prokofiew. Ich hatte in Rußland herzliche private Gastfreundschaft erlebt; aber ich hatte auch die tiefen Narben gesehen, die Hitlers Krieg in den Städten des Landes und in den Herzen der Russen hinterlassen hat.
Natürlich wußte ich, was Rußland dem westlichen Europa verdankte, in der Philosophie, der Wissenschaft, der Architektur. Mit einem Satz: Trotz seiner so ganz anders gearteten und mich abstoßenden »politischen Kultur« erschienen mir – und erscheinen mir noch immer – die Russen, die Weißrussen und die Ukrainer als zugehörig zum Kontinuum der kulturellen Entwicklung Europas.
Aus Gefühl und aus Überlegung glaube ich, daß es richtig war, die Russen soweit wie möglich an Europa und an europäische Kultur zu binden; eine Aufgabe, für die wir in Deutschland mehr an historischen
Weitere Kostenlose Bücher