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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Er legte den Gang ein, und das Boot glitt vorwärts. Er gab Gas, und das Boot fuhr, weiterhin lautlos, schneller.
    Er nahm Kurs auf Domarö und gab Gas. Die laue Luft hätte auf seinem Gesicht kälter werden müssen, als sie zu Fahrtwind wurde, hielt jedoch exakt die gleiche angenehme Temperatur, egal, ob er nun Gas gab oder den Motor drosselte. Es war alles perfekt, und in ihm wuchs die Furcht.
    Die Fahrt nach Domarö ging unfassbar schnell, als hätte sich die Entfernung beim Fahren verkürzt. Nach einer guten Minute legte er parallel zu einem der kleineren Bootsstege neben dem Schiffsanleger an, vertäute das Boot mit dem weichen, weißen Baumwollseil und stieg aus.
    Die Fischerhütten leuchteten rot und schienen im sanften Nachmittagslicht aus Samt zu sein. Anders schaute sich um und entdeckte auf dem Schiffsanleger einen Menschen, der ihm den Rücken zukehrte.
    Er ging am Ufer entlang und sah, als er zum Dorf hinaufblickte, dass der Laden geöffnet hatte und die Eiswimpel sachte im Wind schlugen. Dolomiti, Brauner Bär. Soweit er wusste, wurde keine dieser Eissorten heute noch verkauft. Dort oben stand eine Person und studierte die Reklameschilder.
    HACKFLEISCH 7,95/KG, GURKE 2,95/KG
    Ich weiß, was das ist , dachte Anders, während er auf den Schiffsanleger trat und zu dem Menschen ging, der ihm den Rücken zukehrte. Ich weiß, wo ich bin.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Anders und glaubte, dass er die Worte nur gedacht hatte, weil sie nicht aus seinem Mund kamen. Der Mensch vor ihm war ein Mann, der einen Blaumann und ein kariertes Hemd trug, das seinem eigenen nicht unähnlich war. Der Mann reagierte auf die lautlose Anrede nicht. Anders trat näher.
    »Entschuldigen Sie bitte?«
    Anders tastete seine Lippen ab, leckte an seinem Zeigefinger. Doch, der Mund war da, die Zunge auch. Es war so still hier. Keine Maschinenlaute oder Stimmen, kein Vogelgezwitscher aus den Bäumen.
    Als ihn der Mann auch diesmal nicht zu hören schien, ging Anders um ihn herum, weil er ihm in die Augen sehen oder ihn rütteln können wollte. Er passierte den Mann seitlich und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Es flimmerte vor seinen Augen, als sich alles in sein Gegenteil verkehrte.
    Anders stand nun, wo gerade noch der Mann gestanden hatte, und starrte dessen Rücken an, als der Mann zum Laden hinaufging. Anders lief ihm nach und um ihn herum, und es passierte dasselbe. In seinem Kopf wurde etwas umgestülpt, und er verfolgte einen Mann, der auf dem Weg zum Steg hinunter war, einen Mann, von dem er nur den Rücken und den Hinterkopf sehen konnte.
    Er blieb stehen. Der Mann nahm seine frühere Position auf dem Steg wieder ein, wo er aufs Meer hinausschaute. Anders machte kehrt und ging zum Laden hinauf. Er erwartete fast, dort seine Heringskiste, sein handgeschriebenes Schild zu sehen.
    Denn es war dieser Tag. Der Tag, an dem ein Mann ins Wasser gegangen war und Cecilia ihn auf dem Fahrrad mitgenommen hatte. Sein bester Moment. Dasselbe Wetter, dieselben Schilder, dasselbe Gefühl. Abgesehen von dem Grauen, das in seinen Eingeweiden rumorte.
    Du willst, dass ich bleibe. Du willst mich hierbehalten. Du zeigst mir das alles, weil du glaubst, ich will es sehen. Das ist mein Himmel. So stellst du es an.
    Der Mann, der sich die Schilder angesehen hatte, ging fort. Auf der Dorfstraße entfernte sich eine Frau in einem altmodischen Sommerkleid in südliche Richtung. Eine Frau in einem groben Lodenrock und mit einem Kopftuch stand auf einer Böschung und pflückte mit dem Rücken zu ihm Maiglöckchen.
    Niemand sieht das Gleiche.
    Die Maiglöckchen pflückende Frau gehörte weder in dieses noch ins vorige Jahrhundert. Sie sah wahrscheinlich kein Geschäft und definitiv keine Eisreklame. Möglicherweise sah sie die Bäckerei, von der Anders wusste, dass es sie früher an der Stelle gegeben hatte, an der heute der Laden stand. In ihren Augen war der Schiffsanleger höchstwahrscheinlich eine kleinere Konstruktion aus Holz.
    Heute. Was ist heute? Wo sind wir?
    Anders schloss die Augen und rieb sie sich so fest, dass die Augäpfel in den Schädel gepresst wurden. Als er sie wieder aufschlug, sah er das Gleiche wie vorher. Eine wunderbare Landschaft, einen wunderbaren Tag und Menschen, die sich entfernten oder ihm den Rücken zukehrten.
    Er trat in den Kies, sodass kleine Steinchen geräuschlos davonrollten. Er sog Luft in die Lunge und schrie »Maja!«, tat es aber eben doch nicht. Die Luft entwich, die Stimmbänder vibrierten, aber man

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