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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sich von innen nach außen kehrte, zu einem auf den Kopf gestellten Spiegelbild ihrer selbst wurde.
    Es gibt keinen Weg. Es gibt nur eine Treppe. Und die geht nicht.
    So lauteten Majas Worte aus dem Traum. Jetzt verstand er sie. Sie ging nicht. Die Treppe ging nicht. Nur er ging, und er machte weiter. Aufwärts.
    Zwanzig Treppenstufen später erblickte er über sich erneut den Sommernachtshimmel. Zehn Treppenstufen weiter wurde daraus ein gewöhnlicher, durchs Wasser gesehener Himmel. Die Treppenstufen waren wieder hoch, und als er versuchte, auf die nächste hinaufzugelangen, stolperte er und schlug sich das Knie am Rand.
    Er setzte sich und schaute zum Himmel hinauf. Die Luft in seiner Blase wurde knapp, und er bat das Wasser, sich bis zur Oberfläche zu teilen. Die Passage öffnete sich, als hätte er mit übermenschlich langen Armen einen Vorhang geteilt. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn voller Verzweiflung den Kopf senken.
    Nein, nein, nein! All das und dann …
    Weit über ihm funkelte das Sonnenlicht in den Fenstern des Leuchtturms auf Gåvasten. Jetzt begriff er, welche Bedeutung das unmögliche Verhalten der Treppe hatte. Er war an seinen Ausgangspunkt zurückgeführt worden. Spiritus hatte ihm zwar erlaubt hindurchzuschlüpfen, aber hinein schlüpfte er nicht. Das Einzige, was ihm seine Mühen eingebracht hatten, waren Schmerzen im Knie.
    Er lehnte sich gegen die nächste Treppenstufe und zog die Hose hoch. Der gezackte Rand der Treppe hatte sich in die Haut gebohrt, und es blutete ein wenig. Er grinste höhnisch und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war klar, und was über dem Felsrand vom Leuchtturm zu sehen war, leuchtete weiß. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er das Wasser einfach bat, sich um ihn zu schließen. Wahrscheinlich würde er nicht sterben, aber es bestand immerhin die Möglichkeit.
    Erschöpft blinzelte er in das klare Licht und beschloss, trotzdem noch einen Moment zu warten. Eigentlich war es schön. Er konnte zwar auf nichts mehr hoffen, aber …
    Die Möwen.
    Was war aus den Möwen geworden? Obwohl sein Blickfeld begrenzt war, müssten zumindest einige Vögel zu sehen sein. Doch am Himmel bewegte sich nichts außer dünnen Wolkenschleiern, und man hörte nicht einen Vogelschrei.
    Er raffte sich auf und erklomm die nächste Treppenstufe. Und die nächste. Auf die letzten Stufen musste er sich hochstemmen, bis er erneut auf den Felsen von Gåvasten stand.
    Es war Frühsommer.
    Die Luft war angenehm lau, und es blühte in jeder Felsspalte. Strandkamille und Schnittlauch wippten in einer milden Brise vom Meer. Der Leuchtturm strahlte schneeweiß unter einer behaglich warmen Nachmittagssonne. Ein wunderbarer Tag.
    Anders schaute sich um. Keine Möwen auf dem Wasser, keine Möwen am Himmel. Nicht ein Vogel, so weit das Auge reichte. Der Wollpullover klebte in der Wärme, und er zog ihn aus und band ihn sich über Majas Schneeanzug um den Bauch.
    Schweigend ging er über die Felsen. Als er Simons Boot erblickte, das ordentlich aufs Steinufer gezogen lag, statt verlassen im Meer zu treiben, setzte er sich und lehnte das Kinn in die Hände.
    Wo bin ich? Wann bin ich?
    Das Glitzern des Sonnenlichts auf dem Meer ließ ihn blinzeln, und er musterte das Boot. Es hatte sich verändert. Es wirkte neuer, oder vielmehr … gesünder. Es gab weder Schrammen noch Risse im Rumpf, und die Hülle des hochgeklappten Motors glänzte. In Anders regte sich plötzlich eine Sorge, und er drehte den Kopf in südliche Richtung.
    Domarö lag an seinem Platz. Eine filzige Verdichtung des Horizonts, ein Pinselschwung aus Fichten vor einem heiteren Himmel. Aber es war wie mit dem Boot, die Insel sah gleichsam … neuer aus. Gesünder. Stärker.
    Es zuckte in seinem Bauch wie bei den ersten spürbaren Bewegungen eines Fötus. Anders schob die Hand unter sein Hemd, legte sie auf den Bauch und spürte angeekelt, wie die schwarze Larve in seinem Inneren ihr eigenes Leben führte. Sie waren auseinandergegangen und keine Einheit mehr. Er war Anders, und in seinem Bauch kroch ein Insekt.
    Er stand auf und ging zum Boot hinunter. Die Halteleine lag säuberlich zusammengerollt auf der Ducht im Bug, die Ruder glänzten frisch lackiert. Er stieß sich ab, und das Boot glitt von den Steinen, als er einstieg.
    Er ruckte am Seilzug, und Kühlwasser sprühte durch das kleine Loch unter der Hülle. Er legte die Hand auf den Motor. Er vibrierte. Er lief. Das Problem war nur, dass er keinen Ton von sich gab.

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