Menschenteufel
den vergangenen
Jahren hatten sich ausgerechnet Kollegen am unrühmlichsten hervorgetan. Bei
Abschiebungen von Asylanten hatten sie rücksichtslos oder gar billigend deren
Tod in Kauf genommen. Ebenso hatte der Festnahmeversuch eines einfachen
Mitbürgers mit der falschen Hautfarbe geendet, andere waren bei ähnlichen
Gelegenheiten misshandelt oder verletzt worden.
Petzold packte der Zorn. Am liebsten hätte sie Pribil am Kragen an
die Bahre gezerrt und mit der Nase in die blutige Brust gestoßen. Sehen Sie
sich das an! Idioten wie Sie sind schuld daran, dass andere Idioten sich zu
Verbrechen wie diesem ermutigt fühlen! Dass sie einem Mann alle Knochen
brechen, ihn fast totschlagen, bis man sein Gesicht nicht mehr als das eines
Menschen erkennt!
»Oder es ist damit Terrorist gemeint«, sagte Pribil und zückte sein
Mobiltelefon. »Ich rufe das Bundesamt für Verfassungsschutz und
Terrorismusbekämpfung an.«
»Unsinn!«, rief Petzold und biss sich sofort auf die Lippen.
Pribils Miene verhärtete sich.
»Ich meine nur«, versuchte Petzold zu erklären, »ein Terrorist
schneidet dem anderen doch nicht dieses Wort in die Brust.« Sie hatte ein
undefinierbares Gefühl beim Anblick der Verletzungen, eines, das ihr sagte,
dass dahinter etwas ganz anderes stecken musste.
Das Handy am Ohr, erwiderte ihr Chef kalt: »Das zu beurteilen
überlassen wir doch besser den Profis.«
Ihrem Vorgesetzten ging es nicht um eine Verbesserung der
Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Abteilungen der Wiener Polizei, das
wusste Petzold genau. Nein, der faule Hund wollte einfach zurück auf seine
Dienststelle und schlafen. Aber Petzold wollte diesen Fall behalten!
Wie in jedem Unternehmen herrschten auch bei der Polizei
Kompetenzgerangel, Eifersüchteleien und Eitelkeiten zwischen Personen und
Abteilungen. Freiwillig gab kaum jemand einen Fall ab. Lia Petzold ebenso
wenig, nicht einmal an Revierkollegen. Auch dieser Fall stellte die klassische
Zuständigkeitsfrage. Wer sollte ihn übernehmen? Das Kriminalkommissariat West?
Eine der Gruppen für Gewaltdelikte aus der Kriminaldirektion Eins? Die waren
normalerweise für Morde und Mordversuche zuständig und würden sich ohnehin
irgendwann einmischen. Und jetzt also noch das BVT .
Sie setzte zu einem weiteren Argument an, doch Pribil drehte sich
zur Seite und begann sein Gespräch. Nach zwei Minuten angeregter Erklärungen
schob er das Telefon zurück in seine Hosentasche und erklärte: »Sind gleich
da.«
Sie würde ihre Ermittlungen einfach beginnen. Je früher sie die
Initiative ergriff, desto schwerer würde man später auf sie verzichten können.
An Händen und Unterarmen des Opfers erkannte sie weder
Abwehrverletzungen noch Spuren von Fesseln. Finger und Fußnägel waren gepflegt.
Die gesamte Konstitution wies auf einen Kopfarbeiter hin.
»Sagen Sie kein Wort über die Brustverletzungen zu den Medien«,
befahl Petzold dem Arzt. Bevor es konkrete Hinweise gab, wollte sie
Spekulationen in der Öffentlichkeit verhindern. Aufgeschreckte und
profilierungssüchtige Politiker hatten noch keiner Ermittlung genützt.
»Das Leintuch, auf dem er jetzt liegt, und das, mit dem er zugedeckt
ist, werfen Sie nicht in die Wäsche, sondern geben Sie nachher unserer
Spurensicherung. Vielleicht hinterlässt er darauf Spuren, die wir jetzt nicht
sichern können. Und der Notarzt im Krankenhaus soll alle Gazestücke, Watte oder
womit immer er den Mann und seine Wunden reinigt, ebenfalls verpacken. Die
Spurensicherung braucht sie auch.«
»Sonst noch Wünsche?«
»Machen Sie ihn wieder gesund.«
Der Arzt lachte kurz und bitter. »Auch wenn er Terrorist ist?
Desinfektion bitte.«
»Solange wir das nicht wissen, ist er für mich nur ein Opfer.«
»Und wenn wir es wüssten?«
»Bleibt er trotzdem ein Mensch. Haben wir hier Zeit für eine
philosophische Diskussion?«
Lia Petzolds Blick suchte den nächsten Streifenpolizisten.
»Wer hat den Mann gefunden?«
»Der Bewohner des Hauses, vor dem er lag.« Der Daumen des
Uniformierten zeigte auf ein eindrucksvolles Schmiedeeisentor, das offen stand.
»Ein Kollege ist bei ihm.«
»Werden die Anrainer befragt?«
»Nein.«
»Dann schnappen Sie sich ein paar Kollegen und fangen Sie damit an.«
Sie selbst wandte sich dem kunstvoll gestalteten Tor direkt hinter
dem Tatort zu. Ein leeres Namensschild neben der Klingel und den Schlitzen der
kleinen Gegensprechanlage trug die Nummer 24. Darüber beobachtete sie das
schwarz glänzende Auge einer Linse.
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