Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
das nicht gemeint. Wir machen heute Morgen einen schönen langen Spaziergang am Rhein, ich nehme das Buch mit, und du planschst im Wasser. Wie wär das?« Lilly gähnte, so dass Lea den Zeigefinger hob: »Schäm dich, Lilly, was für eine anspruchsvolle Hundedame du doch geworden bist!«
Nach dem Duschen packte sie das Buch in eine Tasche, legte Lilly das Halsband um und verließ das Haus. Sie hatte sich für heute freigenommen. Sören hatte darauf bestanden, dass sie auszuschlafen und gefälligst einen gemütlichen Tag zu verbringen hatte. Als sie vor die Tür trat, stellte sie fest, dass dies eine gute Entscheidung gewesen war, denn draußen erwartete sie ein kühler, aber sonniger Frühlingstag.
Ihr Weg führte sie wie so oft hinunter zum Rhein, nur suchte sie an diesem Morgen eine kleine Bucht auf, deren Strand durch unzählige kleine Muscheln gebildet wurde. Nahe am Fluss stand eine windschiefe Weide, deren Zweige tief ins Wasser ragten und deren Wurzeln aus dem Muschelstrand auftauchten. Die Wurzeln schienen trocken zu sein, und so setzte Lea sich auf eine Stelle, die bequem aussah. Sie sog die frische Luft ein und folgte mit den Augen einem mit Kies beladenen Lastkahn, bis er unter der Theodor-Heuss-Brücke verschwunden war. Lilly vergnügte sich am Ufer und machte auf jede Möwe Jagd, die es wagte, sich in ihrer Nähe auf einen Felsbrocken zu setzen. Lea zog das Buch aus der Tasche und begann zu lesen: »Die Tarotkarten sind ein jahrhundertealtes Spiel, das viele Geheimnisse birgt und etliche Rätsel aufgibt. Manche behaupten, es sei im alten Ägypten entstanden, zu Zeiten der Pharaonen. Der Mensch, der den Karten folgt, begibt sich auf eine Reise ins Ungewisse. Der Weg führt ihn hinab in die Tiefe des eigenen Universums.«
Die hellen Schreie der Möwen und das Geräusch der Wellen, die ans Ufer schwappten, nahm sie nicht mehr wahr. Lea hätte nicht sagen können, wie lange sie dort gesessen und gelesen hatte, als das Handy sie aus der Lektüre riss.
»Wobei störe ich Sie, Frau Johannsen?«, fragte Sandra Kurz.
»Ich sitze am Rheinufer und lese, ich habe mir heute freigenommen. Meine Freundin Elisabeth hat mir ein Buch über Tarotkarten geschickt. Was ich hier lese, ist wirklich unglaublich! Dieser Marcion hat mir doch die Karte des Gehängten zugewiesen, und hier steht nun Folgendes dazu: ›Der Gehängte sieht die Wirklichkeit auf dem Kopf stehend und erkennt hinter der Täuschung die Wahrheit.‹ Ist das nicht verrückt?«
»So verrückt wie vieles an diesem Fall. Umso erfreulicher ist, dass ich etwas Handfestes zu berichten habe. Denn auch ermittlungstechnisch sind wir der Wahrheit ein ganzes Stück näher gekommen.«
»Klingt gut, Frau Kurz. Also, Sie wissen, ich bin neugierig.«
»Das ist mir nicht entgangen. Nun, wir haben die kriminellen Strukturen innerhalb des ISG fast vollständig aufgedeckt. Neben Thierry Clerceau gab es noch einen Komplizen in England, einen Jonathan Burkham. Er war für diesen fingierten Autounfall verantwortlich. Die Hauptorganisation des ISG, die ihren Sitz in Paris hat, und die einzelnen Niederlassungen in der Schweiz und in Belgien haben nach unseren bisherigen Kenntnissen mit den Vorfällen in Falkenstein und in England nichts zu tun. Auch Madeleine Desault hat ja ausschließlich Kurse im ISG in Falkenstein besucht. Daher gehen wir zurzeit davon aus, dass die kriminelle Struktur nur dort existierte und die Urheberin Ellen Langsdorf gemeinsam mit Marcion, Clerceau und Burkham das System am Laufen hielten – die natürlich das Geld kassierten.«
»Das ist ja fast schon beruhigend«, bemerkte Lea, und dabei entging ihr nicht, dass ihr Maßstab sich verschoben hatte. Sie war gewissermaßen erleichtert, dass es nur vier kriminelle Gestalten und nicht zehn waren.
»Dass die Gruppe überschaubar ist«, fuhr Frau Kurz fort, »hat den Vorteil, dass es wahrscheinlich mit der Anklageerhebung zügiger gehen wird. Aber das Wichtigste: Sebastian Schäfer, unser Marcion, ist gestern Abend in Córdoba in Argentinien festgenommen worden.«
»Unglaublich, das ging aber schnell.« So rasch hatte Lea nicht mit Marcions Festnahme gerechnet. Wenn sie ihm zwar keine übersinnlichen Fähigkeiten zutraute, eine gewisse Gerissenheit und Geschicklichkeit beim Versteckspielen hätte sie auf jeden Fall erwartet.
»Ehrlich gesagt hatten wir unverschämtes Glück«, sagte Sandra Kurz. »Ein Herr Armando García hat an unseren lieben Herrn Schäfer die Bestätigung einer E-Mail geschickt,
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