Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Erstes Kapitel
Sie setzte sich in den Sessel, nahm die weiße Tablette aus dem Taschentuch und schluckte sie hinunter. Das Bittere war kaum wahrnehmbar, und als sie danach einen Schluck Tee trank, schmeckte sie lediglich das Aroma des zarten Jasmins. Sie griff nach der nächsten Tablette, bis keine einzige mehr übrig war. Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Vor sich sah sie Michelangelos »Jüngstes Gericht« in der Sixtinischen Kapelle. Körper, die sich krümmen, und Gesichter, die hoffen. Die einen stürzen in den Abgrund, die Glückseligen steigen in das Himmelreich auf. Ihre Atemzüge wurden tiefer, ihr Kopf fiel zur Seite. Von unten drang Straßenlärm gedämpft in die Wohnung. Das Leben draußen ging weiter.
Endlich Herbst! Der Geruch von feuchtem Laub und letzten Blüten stieg Lea Johannsen in die Nase, leichter Dunst kühlte angenehm ihr Gesicht. Wie jeden Morgen betrat sie den weitläufigen Park mit einem aufgeregten Hund an der Leine. Das Tier streckte prüfend die Nase in die Luft, schnupperte aber sofort am Boden weiter. »Lilly, Platz!« Artig setzte sich die Retriever-Hündin und wartete. Ihre Folgsamkeit wurde mit einem Leckerbissen belohnt, wobei es letztlich unklar blieb, ob ihr Verhalten auf Gehorsam oder auf Appetit zurückzuführen war. Kaum jedoch hatte Lilly das Öffnen des Verschlusses an ihrem Halsband registriert, sprang sie begeistert los, um auf der anderen Seite der Wiese einen Cockerspaniel zu begrüßen.
Der Park war beeindruckend. Wie in einem Aquarellkasten leuchteten die Früchte von Pfaffenhütchen, Feuerdorn und Eberesche um die Wette. Die Blätter der majestätischen Kastanien, Buchen und Ahornbäume waren an den Rändern bereits gelblich oder rötlich verfärbt, und einige von ihnen hatten die Rasenfläche mit bunten Farbtupfern verziert. Tau glitzerte auf den halbzerfallenen Beeren von Heckenkirsche, Felsenbirne und Hartriegel. In der Morgensonne, die milchig durch den feinen Nebel drang, wirkte der Park wie ein Gemälde William Turners.
Nach einer Weile pfiff Lea nach dem Hund, der sich immer weiter entfernt hatte. »Lilly!«
Das Tier drehte nicht einmal den Kopf, und so blieb Lea nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen. Die Sprechstunde der Psychiaterin begann um 9 Uhr, und bis dahin musste Lilly wieder zu Hause im Korb liegen. Diese hatte ihre Aufmerksamkeit gerade einem jungen Pärchen zugewandt, das Arm in Arm durch den Park spazierte. Schwanzwedelnd und freudig bellend sprang der Hund auf die beiden zu, woraufhin die junge Frau sich ängstlich hinter dem Rücken ihres Begleiters versteckte.
»Der macht nichts«, rief Lea, obwohl sie sich geschworen hatte, diesen dämlichen Satz niemals auszusprechen; verspürte sie doch selbst beim Anblick fremder, bellender Hunde einen Anflug von Panik. »Lilly, hier!« Der Hund blickte zumindest in ihre Richtung und lief, als er das Rascheln der Plastiktüte mit Wurstresten hörte, erwartungsvoll auf sie zu. »Fein, Lilly, fein, jetzt müssen wir aber nach Hause gehen.« Sie klopfte auf das weiße Fell, in dem sich einige feuchte Blätter verfangen hatten, und befestigte die Leine wieder am Halsband.
Mit dem zufrieden kauenden Hund an der Seite erreichte sie wenig später ihr Haus, ein älteres, aber frisch gestrichenes Gebäude, das auf unkomplizierte Art einladend wirkte und eine riesige alte Trauerweide auf dem Grundstück beherbergte. Lea bevorzugte einfache und schnörkellose Dinge, von denen, wie sie fand, etwas Beruhigendes ausging.
Als sie die Tür aufschloss, hörte sie auf Sörens Schreibtisch das Telefon klingeln. Sie warf dem Hund die Leine über den Rücken und beeilte sich, im Arbeitszimmer ihres Mannes den Hörer abzunehmen.
»Johannsen«, meldete sie sich noch etwas außer Atem.
»Frau Doktor, guten Morgen, ich hätte da kurz eine Frage.«
Wie üblich, wenn die Arzthelferin Frau Witt anrief, ging es um den Wochenplan, weil Patienten dringend einen Termin benötigten oder Angehörige verschiedene Informationen »schnell« durchsprechen mussten. Den Ansagen »schnell« oder »kurz« misstraute Lea aus Erfahrung.
»Die Kriminalpolizei ist hier mit zwei Beamten. Es geht um Frau van der Neer. Sie hatte für letzten Freitag einen Termin bei Ihnen vereinbart, den sie nicht eingehalten hat.«
»Hört sich nicht gut an. Was ist passiert?«
»Frau van der Neer wurde am Sonntagabend von ihrem Bruder tot aufgefunden. Bei der Durchsicht ihres Kalenders entdeckte er die Eintragung des
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