Merlin und die Feuerproben
Stufe seiner Magie.
Und falls es nicht gelang …
Ich setzte den Psalter ab. Die Saiten klirrten leise, als das Schallbrett wieder die stämmigen Baumwurzeln berührte. Zwischen
diesen Wurzeln hatten die berühmtesten und mächtigsten Zauberer Fincayras – unter ihnen mein legendärer Großvater Tuatha –
ihre eigenen ersten Instrumente gebaut. Daher hatte der Baum auch seinen Namen, der in mancher Ballade und Geschichte vorkam:
die klingende Eberesche.
Ich legte die Hand auf einen runden Rindenknoten und horchte auf den Lebenspuls in dem großen Baum. Den langsamen, anschwellenden
Rhythmus der tiefer greifenden Wurzeln und höher strebenden Zweige, der Tausende von Blättern, die von Grün zu Gold wurden,
auf den Atem des Baums. Wie er Leben und Tod aufnahm und die geheimnisvollen Bande, die beides vereinten. Die klingende Eberesche
hatte viele Stürme, viele Jahrhunderte überstanden– und viele Zauberer. Wusste sie jetzt, fragte ich mich, ob mein Psalter wirklich klingen würde?
Ich hob den Blick und schaute über die Hügel des Drumawalds, jeder so rund wie der Rücken eines laufenden Rehs. Herbstfarben
leuchteten scharlachrot, orange, gelb und braun. Vögel mit buntem Gefieder flogen aus den Zweigen, zwitscherten und flöteten,
während Nebelschwaden aus verborgenen Sümpfen stiegen. Die Brise trug das fortwährende Brausen eines Wasserfalls herüber.
Dieser Wald, wilder als jeder Ort, den ich kannte, war das wahre Herz Fincayras. Hier war ich zuerst herumgewandert, nachdem
ich an die Insel gespült worden war – und hier hatte ich zum ersten Mal meine Wurzeln tief im Boden gespürt.
Mein Stock lehnte am Ebereschenstamm, ich lächelte, als ich ihn sah. Auch er war ein Geschenk dieses Waldes gewesen, sein
würziger Hemlockstannenduft erinnerte mich ständig daran. Was ich an wahren Zauberkräften besaß – abgesehen von ein paar einfachen
Fähigkeiten wie meinem zweiten Gesicht, das mir geschenkt worden war, nachdem ich meine Augen nicht mehr gebrauchen konnte,
und abgesehen von meinem Schwert mit seiner eigenen Magie –, steckte in dem knotigen Holz dieses Stocks.
Und noch vieles andere. Denn mein Stock war von Tuathas Macht berührt worden. Er hatte aus der Vergangenheit, aus dem Grab
heraus, seine eigene Magie in diesen Stock gelegt. Selbst mit meinem geringen Sehvermögen konnte ich die eingeschnitzten Symbole
erkennen, Symbole der Kräfte, die ich so gern ganz beherrscht hätte: das Springen von Ort zu Ort und möglicherweise sogar
von Zeit zu Zeit; das Verändern von einer Gestalt in eine andere;das Verbinden, nicht nur eines verletzten Körpers, sondern auch einer verletzten Seele; und all die anderen.
Vielleicht, nur vielleicht … würde der Psalter sich ähnliche Kräfte zu Eigen machen. War das möglich? Kräfte, die ich zum Nutzen der Menschen in ganz
Fincayra ausüben konnte, mit einer Weisheit und Gnade, die seit den Tagen meines Großvaters nicht erlebt worden waren.
Ich holte tief Luft. Vorsichtig nahm ich das kleine Instrument in die Hände, dann schob ich den Steg aus Eichenholz unter
die Saiten. Eine Bewegung mit dem Handgelenk – und er war an seinem Platz. Ich atmete aus, ich wusste, dass der Augenblick,
mein Augenblick, sehr nahe war.
II
DER GRUNDAKKORD
F ertig«, kündigte ich an. »Der Psalter kann gespielt werden.«
»Fertig, sagst du?« Cairpré streckte den struppigen grauen Kopf hinter dem Stamm der großen Eberesche hervor. Er sah entmutigt
aus, als könnte er das eine entscheidende Wort nicht finden, das er brauchte, um ein episches Gedicht über Baumwurzeln zu
vollenden. Als er die dunklen Augen auf mein kleines Instrument richtete, verfinsterte sich seine Miene noch mehr. »
Hmmm.
Eine ordentliche Arbeit, Merlin.«
Er zog die wirren Augenbrauen zusammen. »Aber fertig ist es erst, wenn es gespielt wird. Wie ich schon irgendwann gesagt habe:
Um die Wahrheit zu verstehen, muss man hören, nicht nur sehen.
«
Hinter ihm, am Rande der Kuppe, lachte jemand herzhaft. »In deinem Gedicht ging es zwar um eine Lerche, nicht um eine Harfe,
aber das ist nicht so wichtig.«
Cairpré und ich fuhren herum, als meine Mutter mit leichtem Schritt über die Wiese kam. Ihr dunkelblaues Gewand flatterte
im Wind, der so kräftig nach Herbst roch, ihr Haar fiel wie ein Mantel aus Sonnenlicht auf ihre Schultern. Doch ihre Augen
waren es, die mir am meisten auffielen, Augen, noch blauer als Saphire.
Während sie näher kam, zog
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