Merlin und die Feuerproben
hättest mich durch Zauberei vom Baum
heben können?«
Obwohl ich versucht war Ja zu sagen, wusste ich, dass es nicht stimmte. Zumindest noch nicht. Außerdem spürte ich Cairprés
bohrenden Blick.
»Nein«, gab ich zu. »Aber irgendwann ist es so weit, glaub mir.«
»Na klar. Und irgendwann ist es so weit, dass der Drache Valdearg schließlich aufwacht und uns alle auf einen Bissen verschlingt.
Das kann allerdings noch tausend Jahre dauern.«
»Es kann auch heute sein.«
»Bitte, ihr beiden.« Cairpré zog mich am Ärmel. »Hört mit diesen Wortgefechten auf.«
Rhia zuckte die Schultern. »Ich kämpfe nie mit einem Unbewaffneten.« Grinsend setzte sie hinzu: »Es sei denn, er prahlt mit
Zauberkräften, die er gar nicht hat.«
Das war zu viel. Ich streckte die leere Hand nach meinem Stock am Baumstamm aus. Ich konzentrierte meine Gedanken auf seinen
knorrigen Griff, die geschnitzte Mitte, das duftende Holz, das so viel Macht hatte. Durch die Finger schickte ich den Befehl:
Komm zu mir. Spring zu mir.
Der Stab zitterte leicht und rieb gegen die Rinde. Dann stand er plötzlich aufrecht im Gras. Im nächsten Augenblick flog er
durch die Luft, direkt in meine wartende Hand.
»Nicht übel.« Rhia in ihrem Blätteranzug machte eine leichte Verbeugung. »Du hast geübt.«
»Ja«, stimmte meine Mutter zu. »Du hast gelernt besser mit deinen Kräften umzugehen.«
Cairpré wiegte den struppigen Kopf. »Aber nicht mit deiner Eitelkeit, fürchte ich.«
Ich schaute scheu zu ihm hinüber, während ich den Stock in meinen Gürtel schob. Doch bevor ich etwas sagen konnte, mischte
sich Rhia ein. »Komm jetzt, Merlin. Spiel uns etwas vor auf diesem kleinen Was-es-auch-ist.«
Meine Mutter nickte. »Ja, spiel.«
Cairpré gestattete sich ein Schmunzeln. »Vielleicht singst du dazu, Elen.«
»Singen? Nein, nicht jetzt.«
»Warum nicht?« Er betrachtete mich nachdenklich, besorgt und hoffnungsvoll zugleich. »Wenn er tatsächlich den Psalter zum
Klingen bringt, haben wir einen guten Anlass zum Feiern.« Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich seine Miene. »Niemand weiß
das besser als ich.«
»Bitte«, drängte Rhia. »Wenn etwas gefeiert wird, dann am besten mit einem deiner Lieder.«
Meine Mutter errötete. Sie wandte sich den raschelnden Blättern der Eberesche zu und überlegte einen Augenblick. »Nun … gut.« Sie streckte uns dreien die Handflächen entgegen. »Ich werde singen. Ja, ein fröhliches Lied.« Sie sah den Dichter
an. »Für die vielen Freuden des vergangenen Jahres.«
Cairpré strahlte. »Und der kommenden Jahre«, flüsterte er.
Wieder errötete meine Mutter. Ich machte mir keine Gedanken, warum, denn auch ich teilte ihre Freude. Hier stand ich mit meiner
Familie, mit Freunden, immer mehr fühlte ich mich auf dieser Insel zu Hause – das alles hätte ich mir vor etwas mehr als einem
Jahr nicht träumen lassen. Ich war jetzt vierzehn Jahre alt, lebte im Wald an einem Ort, der so friedlich war wie das Herbstlaub,
das ich fallen sah. Nichts wünschte ich mir mehr als hier zu bleiben, bei diesen Menschen. Und eines Tages die Künste eines
Zauberers zu beherrschen. Eines echten Magiers – wie mein Großvater es gewesen war.
Meine Finger umklammerten den Rahmen des Psalters. Wenn er mich nur nicht im Stich ließ!
Tief atmete ich die frische Luft ein, die vom Hügel wehte. »Ich bin bereit.«
Meine Mutter hörte die Anspannung heraus und strich mir mit dem Finger über die Wange – dieselbe Wange, die vor langer Zeit
von einem Feuer, das ich entzündet hatte, versengt worden war. »Ist alles in Ordnung, mein Sohn?«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ich stelle mir nur vor, wie sich mein Geklimper im Vergleich zu deinem Gesang anhören wird,
das ist alles.«
Obwohl ich sah, dass sie mir nicht glaubte, schien sie das zu beruhigen. Nach einem Augenblick fragte sie: »Kannst du in der
ionischen Tonart spielen? Wenn du nur den Grundakkord anschlägst und eine Zeit lang spielst, kann ich mein Lied deiner Melodie
anpassen.«
»Ich kann es versuchen.«
»Gut!« Rhia sprang hoch und fasste den niedrigsten Ast der Eberesche. Sie schaukelte hin und her und lachte glockenhell, als
goldene Blätter auf uns herabregneten. »Ich höre so gern eine Harfe, selbst wenn sie so winzig ist wie deine. Sie erinnert
mich an den Klang des Regens, der auf einer Sommerwiese tanzt.«
»Nun, der Sommer ist vorbei«, erklärte ich. »Aber wenn etwas ihn zurückbringen kann, dann
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