MERS
zu ziehen, aber er war zu kurz. Sie war unsere Virologin, das Herz unseres Teams, Dr. Liesl Wronowicz, ausgebildet in den USA, medizinischer Abschluß in Harvard, Doktor im MIT. Sie war stets ein wenig ängstlich, versuchte stets, sich hübscher, strahlender, schöner, besser zu machen, angefangen vom Bridge bis hin zum Zusammenkitten von DNA. Ich hatte sie, überraschenderweise, Brandt International abgejagt. Dort hatte es persönliche Differenzen gegeben, wie sie sagte. Zwei Wochen Zusammenarbeit mit ihr sagten mir, daß sie außerstande gewesen waren, ihren Perfektionismus zu ertragen.
Müßig blätterte ich durch die Ordner. Der dritte von oben war derjenige, der nicht dort gewesen war, als ich sie weggelegt hatte. Er enthielt einige Darstellungen altmodischer DNA-Erweiterung als Methode, das Geschlecht menschlicher Keimbläschen zu bestimmen. Nicht wertvoll, nicht einmal nützlich, aber jemand hatte geglaubt, er sei es wert, ihn sich auszuleihen, vielleicht über Nacht, und er hatte daraufhin während der letzten Stunde den Safe geöffnet und ihn zurückgelegt, während ich nicht im Büro war. Und ich hätte niemals etwas davon erfahren, wenn ich nicht an jenem Morgen früher gekommen wäre als der Betreffende und damit angefangen hätte, meine Unterlagen zu sichten.
Der dritte von oben – das war tödlich. Warum einen Ordner als dritten hineinlegen, wenn es nicht heimlich hätte sein sollen, damit es mir nicht auffiel?
Jemand.
Gusso Polder traf ein und schob sich um den Türrahmen herum. Ich hob einen Finger, um ihn zum Schweigen zu veranlassen, deutete auf einen Stuhl und stellte zu Maggi durch.
»Irgendwelche Anrufe während der letzten Stunde?«
»Nichts auf der Maschine, Boss.«
»Sie waren nicht hier?«
»Mußte hinüber zur Bibliothek, bin gerade, kurz vor Ihnen, zurückgekommen. Irgendwelche Probleme?«
»Keine Probleme, Maggi.«
Ich schaltete ab. Überhaupt keine Probleme. Ein leeres Büro, ein unbewachter Safe und fünf Leute, fünf Kollegen, Freunde, Maggi, Gusso, Natya, Karen und Liesl, welche die Kombination kannten. Verdammt noch mal, überhaupt keine Probleme!
Die anderen trafen ein. Ich wartete, bis sie sich gesetzt hatten, Karen sich eine angesteckt hatte, Gusso deswegen aufgestöhnt hatte, und dann teilte ich ihnen mit, daß ich, da mein Antrag jetzt eingereicht war, aus Sicherheitsgründen meine persönlichen Codes und Kombinationen ändern würde. Und ich bat sie, wegen der zu erwartenden wenig hilfreichen Reaktion der Ministerin auf meinen Antrag, einen gemeinschaftlichen Vorschlag für ein Testprogramm für Schwangerschaften mit Freiwilligen zu erarbeiten, weil das die einzige ›Hausarbeit‹ war, die wir noch für die Ministerin erledigen konnten.
Persönlich, sagte ich zu ihnen, benötigte ich moralischen Auftrieb, also würde ich ein paar Tage Urlaub nehmen. Vielleicht länger.
Treffen vorüber. Keine Erklärungen. Ich bezweifle, daß man mich wiedererkannte. Es war mir egal. Das Problem war, daß ich wegen einen von ihnen sie allesamt haßte.
Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 20: Mitte Juni
4
Harriet spreizte die Finger und streckte sie, bis die Bänder im Handrücken und in den Gelenken knarrten. So junge Hände, hatte Julius zu ihr gesagt. Süße sechzehn und noch nie geküßt. So geschmeidig werden sie nie mehr sein.
Sie schlug eine Seite zurück und fing von vorne an. Der Prokofieff war wuchtig, rasche, volle Akkorde, viel Bewegung: nach einer halben Stunde am Keyboard schmerzten ihr die Arme. Sie liebte das Stück, aber jetzt konzentrierte sie sich auf die Bewegung als solche und hoffte, daß sich die Einzelheiten von selbst ergäben.
»Es reicht!« Über das Hämmern hinweg vernahm sie Julius’ Protest und hörte auf. »Du wirst müde.«
»Nein.« Sie beugte sich vor, um die Musik genauer in Augenschein zu nehmen. »Es ist bloß so, daß ich anscheinend nicht…«
»Dann werde ich müde.« Er erhob sich vom Hocker neben ihr. »Teezeit.«
Sie kam nach der Schule hier herauf nach Eckett, um Stunden zu nehmen – es war ein langer Nachhauseweg, aber sie blieb stets zum Tee, selbst heute, wo sie ruhelos war und sich auf das Wiedersehen mit Daniel freute. Sie schätzte jeden Augenblick, den sie in Julius’ und Ankas schäbigem alten Haus verbrachte. Es war ein Steingebäude, vor dem Ersten Weltkrieg erbaut, und stand auf einem prächtigen Platz, der nach seinem Designer Eckett benannt war. Er war von Bäumen gesäumt und schattig im Sommer, einstmals ein
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