Meuterei auf der Deutschland
sich gegenwärtig die Wahrnehmung, dass das praktizierte Organisationsprinzip erfolgreich ist und sogar die Grundlage des eigenen Erfolgs darstellt. Für viele Piraten ist die Tatsache, anders zu sein als die etablierten Parteien, ein zentraler Anreiz zur Mitwirkung. Würde die Partei ihr Vollversammlungsprinzip also zugunsten eines Delegiertensystems aufgeben, würde man Teile der Anhängerschaft frustrieren.Dafür spricht, dass etwa der Landesverband Niedersachsen, der zwischenzeitlich eine Delegiertenversammlung als Option für ein weiteres Gremium vorgesehen hatte, diese Regelung jüngst wieder aus der Satzung gestrichen hat. Und drittens werden natürlich die Profiteure des Systems alles daransetzen, dass es so bleibt, wie es derzeit ist.
Während die Piraten also ein grundlegendes strukturelles Problem nicht angehen werden, stellt sich ihre Struktur an einer anderen Stelle schon jetzt als prekär dar. Ihre finanzielle Schwäche konnten sie bislang durch ein höheres Aktivitätsniveau und die technische Kompetenz ihrer Mitglieder und Anhänger mehr als kompensieren (Blumberg 2010, S. 28; Niedermayer 2010, S. 847). Die Grenzen – oder besser: Folgekosten – dieses Organisationsmodells sind in Anbetracht der zahlreichen Rückzüge von Funktionären gleichwohl mit Händen zu greifen. Etliche Vorstandsmitglieder der verschiedenen Organisationsebenen klagen über den erheblichen Arbeitsaufwand und stehen am Rand der physischen wie psychischen Belastbarkeit. Wieder andere scheinen mit dem jeweiligen Amt schlicht überfordert zu sein. Vor allem seit der Berlin-Wahl 2011 haben sich die Anforderungen dramatisch erhöht. Sich neben dem Beruf für die Partei zu engagieren, fällt vielen mittlerweile schwer. Die finanzielle Lage begrenzt gegenwärtig jedoch die Professionalisierung der alltäglichen Arbeit. Kompensatorisch versuchen die Fraktionen, Personal einzustellen, um die Parteibasis auf diese Weise enger mit der Fraktionsarbeit zu verzahnen. Als Surrogat für die Bezahlung der Vorstandsämter wird momentan die Wahl von Mandatsträgern zu Vorstandsmitgliedern betrachtet.
5. Fazit
Die Piratenpartei in Deutschland ist mit einem bestimmten internetkulturellen Kern verknüpft, der sich in mehrfacher Hinsicht auf den Organisationsaufbau, die Inhalte der Partei und die Entscheidungswege auswirkt. Die Piraten sind auf den ersten Blick das politische Sprachrohr einer Personengruppe, die massiv von der netzgestützten Kommunikation und Arbeitsweise geprägt ist. Doch das Label »Internetpartei« ist heute weniger in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung oder sozialstrukturelle Zusammensetzung von Wähler- und Mitgliedschaft berechtigt, als vielmehr hinsichtlich der aus dem Netz entlehnten Kulturtechniken. Die dem Internet inhärenten Kommunikationsstile und die technikbasierten Partizipationsmodelle werden auf das politische System insgesamt übertragen. Die Prinzipien der Hierarchiefreiheit, der direkten Kommunikation, der Flexibilität und der Unverbindlichkeit werden daraus ebenso übernommen wie das hybride Selbstverständnis aus radikalem Individualismus und digital vernetztem Kollektivismus. Argumentationsmuster werden oftmals selektiv zusammengefügt, ausgegoogelt und via Copy and Paste neu kompiliert. Hinsichtlich der Prinzipien und der Arbeitsweise entspricht das mehr oder minder den Maximen der Postmoderne, die Piraten sind insofern auch Teil einer entsprechenden Kulturbewegung. Diese basiert weitaus weniger auf festen und verbindlichen Formen der Kommunikation, der Aushandlung und Aggregation von Interessen, als wir es aus der bundesrepublikanischen Geschichte gewohnt sind. Das Assoziationsvermögen der Individuen mag geringer sein. Die Strukturen mögen fließend geworden sein, ihre Nachhaltigkeit ist nicht zwingend gegeben. Doch die schiere Masse und die technischen Möglichkeiten kompensieren anderweitige Verluste. Das bedeutet dann aber, dass die Offenlegung des Programmcodes des Betriebssystems im Speziellen und konsequente Transparenz im Allgemeinen eine essenzielle Voraussetzung für das Funktionieren einer solch anarchisch anmutenden Gesellungsform darstellt.
Diesen Postmodernismus haben die Piraten auf ihr Programm, ihre Strategie und ihre Arbeitsweisen übertragen. Auf dieser Grundlage erreichen sie einen stabilen Sockel von zwei Prozent der Wählerstimmen. Möglicherweise dehnt sich dieses Fundament mittel- bis langfristig weiter aus, weil die Affinität zu netzbasierter Kommunikation bei den
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