Meuterei auf der Deutschland
schwer zu rechtfertigenden Mangel dar. Die Piraten beschließen den Abstimmungsmodus lediglich als Teil ihrer Geschäftsordnung und ändern ihn dann schon mal im Verlauf einer Versammlung ab. Zwar gibt es einige Prozeduren, die regelmäßig angewendet werden, doch auch diese sind nicht festgeschrieben und zudem für Außenstehende nicht immer einfach zu verstehen. Wahlen laufen nach dem eher ungewohnten Verfahren des »Approval Voting« ab, bei dem man nicht dem eigenen Favoriten die Stimme gibt, sondern jeden Namen ankreuzt, mit dem man prinzipiell leben kann; der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt. Gerade weil dieses Verfahren eine Besonderheit darstellt, wäre es im Sinne der Verfahrensklarheit, die ihrerseits Minderheiten Schutz bieten würde, zwingend erforderlich, satzungsrechtliche Fragen bereits im Vorfeld abschließend zu erörtern. Solange die amorphe, durch die Festlegung des Tagungsortes möglicherweise selektiv zusammengesetzte Teilnehmerschaft die Wahlordnung jedes Mal neu aushandeln kann, drohen die Piraten insofern latent der jakobinischen Versuchung zu erliegen, aufgrund situativer Mehrheitsentscheidungen Minderheiten zu ignorieren.
Dennoch bietet das Organisationsmodell jedem einzelnen Mitglied unmittelbare Mitwirkungsrechte. Das stellt die Partei allerdings von einer weiteren Seite her vor möglicherweise unlösbare Probleme: Vorstandswahlen ziehen sich oftmals schier endlos lange hin. Angesichts des sprunghaften Wachstums der letzten Jahre und in Anbetracht des Umstandes, dass es inzwischen realistische Chancen gibt, auch tatsächlich Mandate zu erringen, droht die Aufstellung von Listen für Bundestags- oder Landtagswahlen jeden zeitlichen Rahmen zu sprengen. Vor allem in den größeren Landesverbänden wird dadurch mittlerweile die Teilnahme an den Wahlen selbst gefährdet.
Während auf der überörtlichen Ebene die Probleme also zunehmen, erweist sich die basispartizipatorische Ausrichtung auf der lokalen Ebene durchaus als Vorteil. Gerade weil Antrags- und Abstimmungsrechte nicht durch Delegation aus den Stammtischen und Crews heraus abgeleitet werden müssen, ergeben sich keine Legitimationsprobleme hinsichtlich einer flexiblen und im steten Wandel befindlichen Struktur vor Ort. Dementsprechend brauchen die Piraten gegenwärtig auch keine Anstrengungen zu unternehmen, um ihre Gliederung zu vereinheitlichen.
Dass die Piratenpartei bislang derartig unvollkommen organisiert ist und Entscheidungsmechanismen und -strukturen so unverbindlich geregelt sind, dürfte abermals mit der internetkulturellen Prägung zusammenhängen. Einen großen Teil ihrer Organisationsaufgaben bewältigt die Partei mithilfe des Internets und verschiedener Onlinetools. Die Blogs und Twitter-Accounts der Vorstände spielen eine wichtige Rolle; Aktivitäten und Inhalte werden in Etherpads gemeinsam geplant; man nutzt die Telefonkonferenzsoftware Mumble; Stimmungsbilder zu Personal- und Sachfragen werden via LiquidFeedback, LimeSurvey oder Doodle erhoben; das Wiki der Partei stellt eine Mischung aus virtuellem Parteiarchiv und Arbeitshilfe für die Aktiven dar, die wiederum selbst in sozialen Netzwerken präsent sind und diskutieren. Damit ist es prinzipiell jedem Mitglied möglich, sich kurzfristig und ohne größere Verpflichtungen in Parteidiskussionen einzubringen. Aus alldem ergibt sich allerdings ein unüberschaubares innerparteiliches »Kommunikationsgeflecht« (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010, S. 23). Zeitweilig herrscht auf den Mailinglisten ein so dichter Verkehr, dass man schnell den Überblick verliert. Am Wochenende nach der Neuwahlentscheidung in Nordrhein-Westfalen wurden allein auf der zentralen Mailingliste des Landesverbands 382 Mails zu 57 verschiedenen Themen gezählt, wobei es meist um organisatorische Fragen ging. Auch Links zu Presseartikeln oder Blogbeiträgen werden vorzugsweise über solche Listen gepostet. Zwar verirrt sich bisweilen auch eine inhaltlich-strategische Frage in die Mailingliste, doch die entsprechenden Diskussionen verlaufen oft rasch im Sande.
Wer Willensbildungsprozesse oder den aktuellen Stand einer Debatte nachvollziehen will, muss also extrem viel Zeit und Erfahrungswissen mitbringen. Gerade für Neumitglieder, die sich an den Diskussionen beteiligen wollen, stellt das oft eine bedeutende informelle Hürde dar. Mit Blick auf die Praxis muss man das partizipatorische Ideal insofern vielleicht anders formulieren: Es geht in erster Linie darum, dass zumindest theoretisch
Weitere Kostenlose Bücher