Michelle Obama – Ein amerikanischer Traum
Michelle am frühen Nachmittag «Mary’s Center» in Adams Morgan. Das Viertel gehört zur erweiterten Nachbarschaft des Weißen Hauses, zu Fuß wäre es ein Spaziergang von etwa 30 Minuten, direkt nach Norden, die Flussterrassen hinauf, die der Potomac in die Hügel gegraben hat. Michelle ist natürlich mit dem Auto gekommen und mit der üblichen Eskorte aus persönlichen Assistentinnen und Wachleuten. Adams Morgan ist bekannt für seine bunte Kneipenszene und die internationale Küche der Restaurants dort. Der Stadtteil beherbergt Bürger mit sehr unterschiedlichen Einkommen. «Mary’s Center» bietet zahlreiche kommunale Dienstleistungen an: Gesundheitsversorgung, Schwangerschaftsberatung, Aidstests, Tagesbetreuung für Kinder samt Nachhilfe für alle Altersgruppen von der Vorschule bis zur High School. 20 Minuten lässt sich die First Lady durch die Abteilungen führen, plaudert mit Personal und Patientinnen, stellt fachkundige Fragen. Schließlich hat sie jahrelang in Chicago im Nachbarschaftsprogramm der Universitätsklinik gearbeitet, die in einer Gegend mit ähnlichen sozialen Bedingungen liegt.
Die nächste Tür führt in einen fensterlosen Raum, in dem Drei- bis Fünfjährige spielen und offenkundig darauf warten, dass die First Lady ihnen aus dem Bilderbuch «Brown Bear, Brown Bear, What Do You See?» vorliest. Michelle ignoriert den für sie bereitgestellten Stuhl mit dem Buch und hockt sich in ihrer grauen Wollhose und ihrem weißen Stretchpullover zwischen die Kinder auf den Boden. «Hey, ich heiße Michelle und bin mit dem neuen Präsidenten verheiratet. Kennt ihr seinen Namen?» – «Barack Obama», ruft ein Mädchen namens Anise wie aus der Pistole geschossen. David dagegen ist scheu und rangiert weiter stumm mit seinen Spielzeugautos, als die First Lady ihn mehrfach anspricht und schließlich fragt, ob er ihr vielleicht ein spanisches Wort beibringen wolle. Wie heißt «braun» auf Spanisch? Das nehmen andere Kinder als Stichwort und betteln nun: «Brown Bear, Brown Bear.» Michelle greift nach dem Kinderbuch: «Wenn ihr wüsstet, wie oft ich das meinen Töchtern vorgelesen habe. Wahrscheinlich eine Million Mal.» Da drängt Anise wieder in den Vordergrund. «Ich weiß deren Namen. Eine heißt Sasha.» Michelle lächelt.
Offenkundig kennt sie das Buch in der Tat auswendig. Sie blickt über die Seiten hinweg die Kinder an, als sie von der gelben Ente und dem blauen Pferd vorliest. Sie flicht ein «Miau» ein, als sie zur Seite mit der lilafarbenen Katze blättert, bellt mit den Kindern, als der weiße Hund auftritt, und fragt schließlich, welche Farbe der Fisch habe. Manche sagen: «Golden», andere: «Orange.» Michelle schlägt vor, die Kinder sollten gemeinsam einen «Teambeschluss» fassen. Die vorletzte Abbildung zeigt einen Lehrer. «Wo sind eure Lehrer?», fragt sie. «Du bist heute unsere Lehrerin», entgegnet ein Mädchen, noch bevor Anise den Mund aufmachen kann, und fährt neugierig fort: «Wo wohnst du eigentlich?» – «Nicht sehr weit von hier, immer die Straße runter», sagt Michelle und nimmt, ehe sie den Raum verlässt, alle Kinder in den Arm.
Zum Abschluss des Besuchs setzt sie sich einige Türen weiter mit neun Jugendlichen im Alter von 16 bis 18 Jahren zusammen.
«Warum sind Sie eigentlich zu uns gekommen?», fragt einer herausfordernd.
«Ihr gehört zu meiner neuen Nachbarschaft, und meine Eltern haben mich dazu erzogen, dass man seine Nachbarn kennen und sich um sie kümmern soll», erklärt Michelle sanft. «Barack hatte gerade zu viel Arbeit, um mitzukommen. Meine beiden Töchter sind noch in der Schule. Da dachte ich mir, ich nutze die Zeit, um euch zu treffen.»
Kürzlich, sagt ein anderer Jugendlicher bedrückt, sei draußen auf der Straße ein Obdachloser gestorben und die Menschen seien achtlos an ihm vorbeigegangen. Respekt vor den Mitmenschen und soziale Verantwortung könne man nicht befehlen, antwortet Michelle. Sie müssen von jedem Einzelnen kommen. Die Regierung, die Gesetze, die Polizei seien nur ein Teil der Lösung. Der menschliche Umgang lasse sich nicht per Gesetz erzwingen. Da müssen die Eltern Vorbilder sein. Doch auch bei solchen Treffen wie hier im Zentrum könnten sich Jugendliche darüber austauschen, wie man sich richtig verhält. «Was für eine Art von Nachbar wollt ihr sein? Schaut ihr auch weg, wenn ihr einen Toten seht oder ein Verbrechen beobachtet, oder ruft ihr die Polizei? Darüber müssen wir uns alle zusammen, als Gesellschaft,
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