Michelles Verführung
sie, ein Kratzen oder ein Pochen zu vernehmen oder auch nur einen Schatten zu sehen. Doch da war nichts. Nichts, was sie erkannte.
Auf der anderen Seite der Straße, im düsteren Schutz eines Gebäudes, stand jemand. Eine Gestalt, die sich nur durch das sanfte Aufglimmen einer Zigarette von der Dunkelheit abgrenzte.
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Raoul beobachtete die Frau am Fenster. Im Gegensatz zu dem lächerlichen menschlichen Sehvermögen konnte er aus dieser Entfernung fast jede winzige Kontur ihres Gesichtes erkennen. Es hatte eine weiche, runde Form. Wenn sie lächelte, würden sich Grübchen zeigen. Das verlieh ihr etwas Unschuldiges. Ganz anders als ihre Augen, die schon so vieles erblickt hatten.
Er schnippte die Zigarette fort.
In dieser Nacht würde sie ihre Wohnung wohl kein zweites Mal verlassen. Er hasste es zu warten. Dennoch verließ er die Straße und kehrte kurz vor Tagesanbruch in den „Club Noir“ zurück.
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Als sich die ersten Strahlen der Morgensonne endlich zeigten, versiegte Michelles innerliche Unruhe. In den nächsten Stunden musste sie keinen Vampir fürchten, obwohl sie gerade das halb sehnsüchtig erwartete. Sie nahm sich vor, dagegen anzukämpfen, und den Tag wieder zu ihrem Lebensraum zu machen. Erneut wagte sie sich hinaus. Dieses Mal rannte sie nicht vor lauter Übermut auf die Straße. Sie achtete auf den Verkehr und die Menschen um sich herum.
Ihr Weg führte sie in ein kleines Café, in dem kaum Betrieb herrschte. Die Bedienung kam sogleich mit einem Gedeck und einer Kanne frischen Kaffees auf Michelle zu. Mit mütterlicher Sorgfalt kümmerte die Frau sich um ihren neuen Gast. Sie schwatzte Michelle ein ausgiebiges Frühstück auf, obwohl diese kaum den Anflug von Hunger verspürte.
„Bitte sehr, mein Kind. Lassen Sie es sich schmecken!“
„Danke. Das ist sehr nett von Ihnen.“ Mit hilflosem Blick überflog Michelle die Croissants, das Brot sowie die süßen und deftigen Leckereien dazu. „Wissen Sie …“
„Ja, mein Kind?“ Die Bedienung wollte sich bereits dem nächsten Gast zuwenden, drehte sich jedoch noch einmal um.
„Eigentlich …“ Michelle stockte. Sie konnte der netten Frau doch nicht tatsächlich von ihrem mangelnden Appetit erzählen.
„Sie suchen nicht zufällig eine Aushilfe hier?“, fragte sie stattdessen völlig unvermittelt.
„Eine Aushilfe?“ Die Bedienung überlegte. „Sie suchen eine Anstellung, hm?“
Michelle nickte zaghaft. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie lange es schon her war, dass sie ihre Arbeit in einem Immobilien-Büro gekündigt hatte.
„Ach, Kindchen, ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Wir brauchen hier einfach keine neue Kraft.“ Die Frau setzte eine ernsthaft betroffene Miene auf. „Aber vielleicht kann ich Ihnen trotzdem helfen. Wissen Sie …“ Ihre Stimme wurde leise, und sie beugte sich ein Stück auf Michelle zu. „Mein Neffe hat eine Bar, die Straße hinunter. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, nachts zu arbeiten – er ist immer auf der Suche nach tüchtigen Aushilfen.“
„Nein, das würde mir nichts ausmachen.“ Sie lächelte. Insgeheim war sie froh, dass die Frau nichts von ihrer Vergangenheit ahnte.
„Chez Rafael heißt die Bar. Das ist mein Neffe – Rafael. Sagen Sie ihm ruhig, dass ich Sie geschickt habe.“ Mit einem Augenzwinkern wandte sich die Bedienung nun tatsächlich von Michelle ab und widmete sich dem nächsten Gast.
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„Chez Rafael“ öffnete bereits um 18.00 Uhr. So stand es zumindest auf dem Schild neben der Eingangstür. Michelle warf einen nervösen Blick auf ihre Armbanduhr, die bereits eine Viertelstunde darüber anzeigte. Sie ging einige Schritte auf und ab, sah sich um und betrachtete zum wiederholten Mal das Schild mit den Öffnungszeiten.
In diesem Augenblick legte sich ein Schatten über sie. Michelle zuckte erschrocken zusammen. Sie sprang fluchend zur Seite und blickte den jungen Mann ihr gegenüber mit weit aufgerissenen Augen an. Lachend schüttelte er den Kopf.
„Bin ich so furchterregend?“
Michelle musterte ihn und stellte fest, dass dem ganz gewiss nicht so war. Er trug eine enge Jeans und eine ebenso enge passende Jacke dazu, die seinen schlaksigen Körper unnatürlich schmal erschienen ließen. Sein sommersprossiges Gesicht wirkte freundlich, und seine schwarz-roten Haarsträhnen standen struppig und wild von seinem Kopf ab. Er war alles andere als furchterregend.
„Sie wollen auch in die Bar?“
Er grinste. „Ich will nicht nur. Ich muss.“ In seinen Händen
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