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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dfg
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daran sei, daß man ein Problem nur ohne Vorurteil und Gewohnheit betrachten müsse, dann zeige es von selbst seine Lösung, unterbrach ihn Büttner und reichte ihm ein dickes Buch. Höhere Arithmetik: ein Steckenpferd von ihm. Gauß solle es mit nach Hause nehmen und durchsehen. Und zwar vorsichtig. Eine geknickte Seite, ein Fleck, der Abdruck eines Fingers, und es setze den Knüttel, daß der Herrgott gnaden möge. Am nächsten Tag gab er das Buch zurück. Büttner fragte, was das solle. Natürlich sei es schwierig, aber so schnell gebe man nicht auf!
Gauß schüttelte den Kopf, wollte erklären, konnte nicht. Seine Nase lief. Er mußte schniefen.
Na was denn!
Er sei fertig, stotterte er. Es sei interessant gewesen, er wolle sich bedanken. Er starrte Büttner an und betete, daß es genug sein würde.
Man dürfe ihn nicht belügen, sagte Büttner. Das sei das schwierigste Lehrbuch deutscher Zunge. Niemand könne es an einem Tag studieren, schon gar nicht ein Achtjähriger mit triefender Nase.
Gauß wußte nicht, was er sagen sollte.
Büttner griff mit unsicheren Händen nach dem Buch. Er könne sich auf etwas gefaßt machen, jetzt werde er ihn befragen!
Eine halbe Stunde später sah er Gauß mit leerer Miene an. Er wisse, daß er kein guter Lehrer sei. Er habe weder eine Berufung noch besondere Fähigkeiten. Aber jetzt sei es soweit: Wenn Gauß nicht aufs Gymnasium komme, habe er umsonst gelebt. Er musterte ihn mit verschwommenem Ausdruck, dann, wahrscheinlich um seine Rührung zu bekämpfen, faßte er nach dem Stock, und Gauß erhielt die letzte Tracht Prügel seines Lebens.
Am selben Nachmittag klopfte ein junger Mann an die Tür des Elternhauses. Er sei siebzehn Jahre alt, hei- ße Martin Bartels, studiere Mathematik und arbeite als Büttners Assistent. Er bitte um ein paar Worte mit dem Sohn des Hauses.
Er habe nur einen, sagte der Vater, und der sei acht Jahre alt.
Eben den, sagte Bartels. Er bitte um Erlaubnis, mit dem jungen Herrn dreimal die Woche Mathematik treiben zu dürfen. Von Unterricht wolle er nicht sprechen, denn der Begriff scheine ihm unpassend, er lächelte nervös, für eine Tätigkeit, bei der er vielleicht mehr zu lernen habe als der Schüler.
Der Vater forderte ihn auf, gerade zu stehen. Das sei alles Blödsinn! Er dachte eine Weile nach. Andererseits spreche nichts dagegen.
Ein Jahr lang arbeiteten sie zusammen. Zu Beginn freute Gauß sich auf die Nachmittage, die immerhin die Gleichförmigkeit der Wochen unterbrachen, obwohl er für Mathematik nicht viel übrig hatte, Lateinstunden wären ihm lieber gewesen. Dann wurde es langweilig. Bartels dachte zwar nicht ganz so schwerfällig wie die anderen, aber mühsam war es auch mit ihm.
Bartels erzählte, daß er mit dem Rektor des Gymnasiums gesprochen habe. Wenn sein Vater es erlaube, erhalte Gauß dort eine Freistelle.
Gauß seufzte.
Es gehöre sich nicht, sagte Bartels vorwurfsvoll, daß ein Kind immer traurig sei!
Er überlegte, die Bemerkung schien ihm interessant. Warum er traurig war? Vielleicht, weil er sah, wie seine Mutter starb. Weil die Welt sich so enttäuschend ausnahm, sobald man erkannte, wie dünn ihr Gewebe war, wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite. Weil nur Geheimnis und Vergessen es erträglich machten. Weil man es ohne den Schlaf, der einen täglich aus der Wirklichkeit riß, nicht aushielt. Nicht Wegsehenkönnen war Traurigkeit. Wachsein war Traurigkeit. Erkennen, armer Bartels, war Verzweiflung. Warum, Bartels? Weil die Zeit immer verging.
Gemeinsam überzeugten Bartels und Büttner seinen Vater davon, daß er nicht in der Spinnerei arbeiten, sondern aufs Gymnasium sollte. Unwillig stimmte der Vater zu und gab ihm den Rat mit, sich immer, was auch geschehe, aufrecht zu halten. Schon längst hatte Gauß Gärtnern bei der Arbeit zugesehen und verstanden, daß seinen Vater nicht die Unmoral der Menschen, sondern der chronische Rückenschmerz seines Berufsstandes umtrieb. Er bekam zwei neue Hemden und einen Freitisch beim Pastor.
Die Höhere Schule enttäuschte ihn. Viel lernte man wirklich nicht: Etwas Latein, Rhetorik, Griechisch, Mathematik auf lachhaftem Niveau, ein bißchen Theologie. Die neuen Mitschüler waren nicht viel klüger als die alten, die Lehrer schlugen zwar nicht seltener, aber immerhin weniger fest. Bei ihrem ersten Mittagessen fragte ihn der Pastor, wie es in der Schule gehe.
Leidlich, antwortete er.
Der Pastor fragte, ob ihm das Lernen schwerfalle.
Er zog die Nase hoch

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