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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dfg
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Gipfel. Der Vulkantrichter war seit Jahrhunderten erkaltet, sein Boden mit versteinerter Lava bedeckt. Die Sicht reichte bis Palma, Gomera und zu den dunstumhangenen Bergen von Lanzarote. Während Humboldt mit Barometer und Sextant die Bergeshöhen prüfte, kauerten die Führer feindselig auf dem Boden, und Bonpland starrte frierend in die Ferne.
Halb verdurstet kamen sie am späten Nachmittag in die Gärten von Orotava. Benommen sah Humboldt die ersten Gewächse der Neuen Welt. Der Anblick einer haarigen Spinne, die sich auf einem Palmenstamm sonnte, erfüllte ihn mit Schrecken und Glück. Dann erst bemerkte er den Drachenbaum.
Er drehte sich um, doch Bonpland war verschwunden. Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. Er war hier gewesen noch vor den Spaniern und vor den alten Völkern. Er war dagewesen vor Christus und Buddha, Platon und Tamerlan. Humboldt horchte an seiner Uhr. Wie sie, tickend, die Zeit in sich trug, so wehrte dieser Baum die Zeit ab: eine Klippe, an der ihr Fluß sich brach. Humboldt berührte den schrundigen Stamm. Weit droben liefen die Äste auseinander, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang die Luft. Zärtlich strich er über die Rinde. Alles starb, alle Menschen, alle Tiere, immerzu. Nur einer nicht. Er legte seine Wange ans Holz, dann wich er zurück und sah erschrocken um sich, ob ihn jemand gesehen hatte. Schnell wischte er die Tränen weg und machte sich auf die Suche nach Bonpland.
Der Franzose? Ein Fischer beim Hafen zeigte auf eine Holzhütte.
Humboldt öffnete die Tür und sah Bonplands nackten Rücken über einer braunen, nackten Frau. Er schlug die Tür zu, ging eilig zum Schiff, blieb nicht stehen, als er Bonplands Laufschritt hinter sich hörte, und wurde auch nicht langsamer, als Bonpland, das Hemd über die Schulter geworfen, die Hose noch über dem Arm, atemlos um Verzeihung bat.
Wenn so etwas noch einmal vorfalle, sagte Humboldt, betrachte er die Zusammenarbeit als beendet.
Also bitte, keuchte Bonpland, während er im Laufen sein Hemd anzog. Manchmal überkomme es einen, sei das so schwer zu verstehen? Humboldt sei doch auch ein Mann!
Humboldt forderte ihn auf, an seine Verlobte zu denken.
Habe er nicht, sagte Bonpland und stieg in seine Hose. Er habe niemanden!
Der Mensch sei kein Tier, sagte Humboldt.
Manchmal doch, sagte Bonpland.
Humboldt fragte, ob er nie Kant gelesen habe.
Ein Franzose lese keine Ausländer.
Er wolle das nicht diskutieren, sagte Humboldt. Noch einmal so etwas, und ihre Wege würden sich trennen. Ob er das akzeptieren könne?
Großer Gott, sagte Bonpland.
Ob er das akzeptieren könne?
Bonpland murmelte etwas Unverständliches und schloß seine Hose.
Einige Tage später überfuhr das Schiff den Wendekreis. Humboldt legte den Fisch, dessen Schwimmblase er gerade im Licht einer abgedämpften Öllampe sezierte, zur Seite und sah zu den klar gestochenen Punkten des südlichen Kreuzes auf. Die Sternbilder der neuen Hemisphäre, erst zum Teil in den Atlanten erfaßt. Die andere Hälfte von Erde und Himmel.
Unversehens gerieten sie in einen Molluskenschwarm. Die Gegenströmung der roten Quallen war so heftig, daß das Schiff sich langsam rückwärts bewegte. Bonpland fischte zwei der Tiere heraus. Er fühle sich seltsam, sagte er. Er wisse nicht, wieso, aber etwas sei hier nicht in Ordnung.
Am nächsten Morgen brach das Fieber aus. Unter Deck stank es erbärmlich, nachts wimmerten die Kranken, selbst an freier Luft roch es nach Erbrochenem. Der Schiffsarzt hatte keine Chinarinde mitgenommen: Neumodisches Zeug, Aderlässe seien erprobt und viel wirksamer! Ein junger Matrose aus Barcelona verblutete bei der dritten Behandlung. Eines anderen Delirium war so stark, daß er davonzufliegen versuchte, erst nach einigen Flügelschlägen abstürzte und fast ertrunken wäre, hätte man nicht sofort ein Boot zu Wasser gelassen und ihn zu fassen bekommen. Während Bonpland krank in seiner Koje lag, kochendheißen Rum trank und für keine Arbeit zu gebrauchen war, zerschnitt Humboldt die beiden Mollusken unter dem Mikroskop, bestimmte viertelstündlich Luftdruck, Himmelsfarbe und Wassertemperatur, ließ alle dreißig Minuten ein Senkblei hinab und trug die Ergebnisse in ein dickes Logbuch ein. Gerade jetzt, erklärte er dem röchelnden Bonpland, dürfe man sich keine Schwäche erlauben. Die Arbeit helfe nämlich. Zahlen bannten Unordnung. Selbst die des Fiebers.
Bonpland fragte ihn, ob er selbst nicht wenigstens ein kleines bißchen seekrank sei.
Er wisse es

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