Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
und wie meist träumte er, daß er in Paris war, an einem Morgen im Herbst, bei sanft gegen die Scheibe trommelndem Regen. Eine Frau, die er nicht deutlich sah, fragte ihn, ob er tatsächlich geglaubt habe, durch die Tropen zu reisen, und er antwortete, nicht wirklich, und wenn, so höchstens einen Augenblick. Dann wachte er auf, weil Humboldt ihn an der Schulter rüttelte und fragte, worauf er denn warte, es sei schon vier Uhr vorbei. Bonpland stand auf, und als Humboldt sich abwandte, packte er ihn, schob ihn auf den Abgrund zu und stieß ihn mit ganzer Kraft über die Felskante. Jemand rüttelte an seiner Schulter und fragte, worauf er denn warte, es sei vier, man müsse los. Bonpland rieb sich die Augen, klopfte den Schnee von seinen Haaren und stand auf. Die indianischen Führer betrachteten ihn schläfrig. Humboldt reichte ihnen ein versiegeltes Kuvert. Der Abschiedsbrief an seinen Bruder. Er habe lange daran gefeilt. Falls er nicht zurückkomme, bitte er um zuverlässige Zustellung an die nächste Jesuitenmission. Die Führer versprachen es gähnend.
Und das sei seiner, sagte Bonpland. Er sei nicht zugeklebt, sie könnten ihn ruhig lesen, und wenn sie ihn nicht zustellten, sei es ihm auch egal. Humboldt wies die Führer an, mindestens drei Tage auf sie zu warten. Sie nickten gelangweilt und zupften ihre Wollponchos zurecht. Gewissenhaft überprüfte er Chronometer und Teleskop. Er verschränkte die Arme und bückte eine Weile starr ins Nichts. Dann, plötzlich, ging er los. Hastig griff Bonpland nach Botanisiertrommel und Stock und lief ihm nach. Aufgeräumt wie lange nicht, erzählte Humboldt von seiner Kindheit, der Arbeit am Blitzableiter, den einsamen Streifzügen durch die Wälder, nach denen er seine ersten Käfer zu Sammlungen geordnet habe, vom Salon der Henriette Herz. Er bedauere jeden Menschen, der solche Gefühlsbildung nicht genossen habe. Seine Gefühlsbildung, sagte Bonpland, habe mit einem Bauernmädchen aus der Nachbarschaft stattgefunden. Die habe fast alles zugelassen. Nur vor ihren Brüdern habe man sich hüten müssen. Der Hund gehe ihm nicht aus dem Sinn, sagte Humboldt auf einmal. Noch immer habe er sich von der Schuld nicht befreien können. Er habe für das Tier doch Verantwortung gehabt! Dieses Bauernmädchen sei erstaunlich gewesen. Noch keine vierzehn, habe sie Dinge beherrscht, man glaube es nicht. Bei den Hunden in Havanna hätte das anders gelegen. Natürlich hätten sie ihm leid getan. Aber die Wissenschaft habe es verlangt, nun wisse man mehr über das Jagdverhalten der Krokodile. Außerdem seien es Mischlinge gewesen, unedel und ziemlich räudig. Wo sie jetzt gingen, gab es keine Pflanzen mehr, nur braungelbe Flechten auf den aus dem Schnee ragenden Steinen. Bonpland hörte sehr laut seinen eigenen Herzschlag und das Zischen des über die Schneedecke streichenden Windes. Als ein kleiner Schmetterling vor ihm aufflog, erschrak er. Keuchend kam Humboldt auf die Nachricht vom Sturz Urquijos zu sprechen. Eine schlimme Sache. Noch sei es ein Gerücht, aber allmählich mehrten sich die Anzeichen, daß der Minister die Gunst der Königin verloren habe. Also weitere Jahrzehnte der Sklaverei. Nach ihrer Rückkehr werde er ein paar Dinge schreiben, die diesen Leuten nicht gefallen würden. Der Schnee wurde höher. Bonpland rutschte aus und schlitterte bergab, nach kurzem geschah Humboldt dasselbe. Um ihre aufgeschürften Hände vor der Kälte zu schützen, wickelten sie sie in Schals. Humboldt betrachtete die Ledersohlen seiner Schuhe. Nägel, sagte er nachdenklich. Durch die Sohlen nach außen getrieben. Das brauchten sie jetzt. Bald reichte der Schnee bis zu ihren Knien. Plötzlich schloß Nebel sie ein. Humboldt maß die Inklination det Magnetnadel und bestimmte ihre Höhe mit dem Barometer. Wenn er sich nicht irre, führe der kürzeste Gipfelweg nordöstlich über den abgeflachten Hang, dann etwas nach links, dann steil aufwärts. Nordöstlich, wiederholte Bonpland. In dem Nebel wisse man nicht einmal, wo die Spitze sei und wo das Tal! Dort, sagte Humboldt und zeigte mit Entschiedenheit irgendwohin.
Vorgebeugt stapften sie an zu Säulen gespaltenen Felsmauern entlang. Hoch droben, für Momente erkennbar, dann wieder verschwunden, führte ein verschneiter Grat zum Gipfel. Instinktiv neigten sie sich beim Gehen nach links, wo der Abhang schräg und frostverglast abfiel. Zu ihrer Rechten öffnete sich senkrecht die Schlucht. Zunächst war Bonpland der dunkel gekleidete Herr, der mit
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