Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Vorarbeiter ihn vor Steinwürfen schützen. Am meisten faszinierte ihn die Findigkeit der Arbeiter beim Diebstahl. Keiner durfte in den Förderkorb, bevor man ihn auf das genaueste untersucht hatte. Dennoch fanden sie immer wieder Wege, um Erzstücke mitzunehmen. Humboldt fragte, ob er sich der Wissenschaft halber an der Leibesvisitation beteiligen dürfe. Er fand Silberklumpen im Haar, in den Achselhöhlen, in den Mündern und selbst im Anus der Männer. Derlei Arbeit widerstrebe ihm, sagte er zum Bergwerksleiter, einem gewissen Don Fernando García Utilla, der ihm träumerisch zusah, wie er den Bauchnabel eines kleinen Jungen betastete; allein, die Wissenschaft und die Staatswohlfahrt verlangten es. Ein geregeltes Ausbeuten der Schätze der tiefen Erde sei nicht denkbar, wenn man nicht den Einzelnteressen der Arbeitenden entgegenwirke. Er wiederholte den Satz, damit Gomez mitschreiben konnte. Außerdem sei es ratsam, die Anlagen zu erneuern. Es gebe zu viele Unfälle. Man habe genug Leute, sagte Don Fernando. Wer sterbe, könne ersetzt werden. Humboldt fragte ihn, ob er Kant gelesen habe. Ein wenig, sagte Don Fernando. Aber er habe Einwände gehabt, Leibniz liege ihm mehr. Er habe deutsche Vorfahren, deshalb kenne er all diese schönen Phantastereien. Am Tag ihrer Weiterreise standen zwei Fesselballons rund und leuchtend neben der Sonne. Das sei jetzt Mode, erklärte Gomez, jeder Mann von Stand und Mut wolle einmal mitfliegen. Vor Jahren habe er den ersten Ballon über Deutschland gesehen, sagte Humboldt. Glücklich, wer damals geflogen sei. Als es gerade kein Wunder mehr gewesen sei und noch nichts Irdisches. Wie die Entdeckung eines neuen Sterns. Bei Cuernavaca sprach sie ein junger Nordamerikaner an.
Er hatte einen raffiniert gezwirbelten Bart, hieß Wilson und schrieb für den Philadelphia Chronicle. Das sei ihm jetzt zuviel, sagte Humboldt. Natürlich stünden die Vereinigten Staaten im Schatten des großen Nachbarn, sagte Wilson. Doch auch ihr junges Staatswesen habe eine Öffentlichkeit, die mit wachsendem Interesse die Taten von General Humboldt verfolge. Bergwerksassessor, sagte Humboldt, um Bonpland zuvorzukommen. Nicht General! Vor der Hauptstadt legte Humboldt Galauniform an. Eine Delegation des Vizekönigs erwartete sie mit dem Stadtschlüssel auf einer Anhöhe. Seit Paris waren sie in keiner Metropole dieser Größe gewesen. Es gab eine Universität, eine öffentliche Bücherei, einen botanischen Garten, eine Akademie der Künste und eine Bergbauakademie nach preußischem Vorbild unter der Leitung von Humboldts ehemaligem Freiberger Mitschüler Andres del Rio. Über das Wiedersehen schien der sich nicht mehr als nötig zu freuen. Er legte Humboldt die Hände auf die Schultern, hielt ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Also sei es wahr, sagte er in gebrochenem Deutsch. Trotz allen Geredes. Welchen Geredes? Seit der Begegnung mit Brombacher hatte Humboldt nicht mehr seine Muttersprache verwendet. Sein Deutsch klang hölzern und unsicher, immer wieder mußte er nach Worten suchen. Gerüchte, sagte Andres. Etwa, daß er ein Spion der Vereinigten Staaten sei. Oder einer der Spanier. Humboldt lachte. Ein spanischer Spion in der spanischen Kolonie? Aber ja, sagte Andres. Lange werde man nicht mehr Kolonie sein. Drüben wisse man das, und hier wisse man es erst recht. Nahe dem Hauptplatz hatte man begonnen, die Reste des von Cortés zerstörten Tempels auszugraben. Im Schatten der Kathedrale standen gähnende Arbeiter, der stechende Geruch von Maisfladen hing in der Luft. Auf dem Boden lagen Knochenschädel mit Edelsteinaugen, Dutzende Obsidianmesser, kunstvoll in Stein geritzte Bilder menschlicher Schlachtungen, kleine Tonfiguren mit offenem Brustkotb. Da war auch ein Steinaltar aus grob gehauenen Totenköpfen. Der Maisgeruch störte Humboldt, ihm war nicht wohl. Als er sich umdrehte, sah er Wilson und Gomez mit ihren Notizblöcken. Er bat sie, ihn allein zu lassen, er müsse sich konzentrieren. So arbeite ein großer Forscher, sagte Wilson. Allein sein, um sich zu konzentrieren, sagte Gomez. Das solle die Welt erfahren! Humboldt stand vor einem riesigen Rad aus Stein. Ein Gewirbel aus Echsen, Schlangenköpfen und in geometrische Splitter zerbrochenen Menschenfiguren. In der Mitte ein Gesicht mit herausgestreckter Zunge und lidlosen Augen. Er sah lange hin. Allmählich ordnete sich das Chaos; er erkannte Entsprechungen, Bilder, die einander ergänzten, Symbole,
Weitere Kostenlose Bücher