Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
beschränkt. Doch er habe es immer für nötig gehalten, seine Kenntnisse weit über die Grenzen seiner Anteilnahme hinaus auszudehnen. Bei der Gelegenheit: Er habe gehört, der Hetr Geodät wolle ihm etwas sagen.
Bitte?
Es sei schon eine Weile her. Beschwerden, Ärgernisse. Eine Anklage sogar.
Gauß rieb sich die Stirn. Ihm wurde allmählich heiß. Er hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann sprach.
Bestimmt nicht?
Gauß sah ihn verständnislos an.
Dann eben nicht, sagte der Graf. Und was die Bäume anbelange, die gebe er gratis.
Und den Schuppen?
Den auch.
Aber warum, fragte Gauß und erschrak über sich selbst. Was für ein dummer Fehler!
Brauche man immer Gründe? Aus Liebe zum Staat, wie sie einem Bürger wohl anstehe. Aus Wertschätzung für den Herrn Geodäten.
Gauß bedankte sich mit einer Verbeugung. Er müsse jetzt aufbrechen, sein nichtsnutziger Sohn warte, er habe heute noch die ganze Länge bis Kalbsloh abzuschreiten.
Der Graf erwiderte den Gruß mit einer Flatterbewegung seiner dünnen Hand.
Auf dem Weg zum Herrenhaus schien es Gauß einen Moment, als hätte er die Orientierung verloren. Er konzentrierte sich, dann ging er rechts, links und rechts, durch die Gittertür, wieder zweimal rechts, durch noch eine Tür und stand in der Eingangshalle vom Vortag. Der Diener wartete schon, öffnete die Haustür und entschuldigte sich für das Zimmer. Er habe nicht gewußt, um wen es sich gehandelt habe. Es sei nur die Reiterkammer gewesen, wo man Gesindel und Herumtreiber unterbringe. Droben sei es gar nicht häßlich. Man habe Spiegel und Waschbecken und sogar Bettzeug.
Gesindel und Herumtreiber, wiederholte Gauß.
Ja, sagte der Diener mit unbewegtem Gesicht. Abschaum und niederes Gezücht. Und er schloß sanft die Tür.
Gauß atmete tief ein. Er war erleichtert, daß er hinaus war. Er mußte schnell weg, bevor dieser Verrückte seine Zusage bereute. Der hatte also die Disquisitiones gelesen! Er hatte sich noch immer nicht ans Berühmtsein gewöhnt. Selbst damals, als in der schlimmsten Kriegszeit ein Adjutant Napoleons Grüße überbracht hatte, hatte er es für ein Mißverständnis gehalten. Womöglich war es auch eines gewesen; er würde es nie erfahren. Schnellen Schrittes ging er den Hang hinunter in den Wald.
Ärgerlicherweise versteckten sich die gestern markierten Bäume auf das geschickteste. Es war schwül, er schwitzte, und es gab zu viele Fliegen. Auf jedem Baum, der weg mußte, hatte er ein Kreidekreuz angebracht. Jetzt mußte er ein zweites darüber malen, als Zeichen, daß die Genehmigung zum Fällen vorlag. Eugen hatte ihn kürzlich gefragt, ob sie ihm nicht leid täten, diese Bäume seien so alt und hoch, sie spendeten so viel Schatten und hätten so lange gelebt. Der Junge war zugleich gefühlig und begriffsstutzig. Ein Jammer: Er war so fest entschlossen gewesen, die Begabungen seiner Kinder zu nähren, ihnen das Lernen leicht zu machen und alles zu fördern, was an ihnen außergewöhnlich war. Aber dann war nichts an ihnen außergewöhnlich gewesen. Sie waren nicht einmal besonders intelligent. Joseph machte sich ganz gut als Offiziersanwärter, doch der war ja auch von Johanna. Wilhelmine war immerhin gehorsam und hielt das Haus sauber. Aber Eugen?
Endlich fand er den Schuppen und konnte ihn markieren. Vermutlich würde es Tage dauern, bis die Helfer ihn abgerissen hätten. Dann würde er den Winkel zur Basislinie bestimmen können, und das Netz wäre um ein weiteres Dreieck vergrößert. So mußte er sich Schritt für Schritt hinaufarbeiten, bis zur dänischen Grenze.
Bald würde all das eine Kleinigkeit sein. Man würde in Ballons schweben und die Entfernungen auf magnetischen Skalen ablesen. Man würde galvanische Signale von einem Meßpunkt zum nächsten schicken und die Distanz am Abfallen der elektrischen Intensität erkennen. Aber ihm half das nicht, er mußte es jetzt tun, mit Maßband, Sextant und Theodolit, in lehmigen Stiefeln, mußte dazu noch Methoden finden, auf dem Weg reiner Mathematik die Ungenauigkeiten der Messung auszugleichen: Winzige Fehler addierten sich jedesmal zur Katastrophe. Noch nie hatte es eine genaue Karte dieser oder irgendeiner Gegend gegeben.
Seine Nase juckte, eine Mücke hatte mitten hineingestochen. Er wischte sich den Schweiß ab. Er dachte an Humboldts Bericht über die Moskitos am Orinoko: Menschen und Insekten konnten nicht auf Dauer zusammenleben, nicht für immer, nicht in alle Zukunft. Erst letzte Woche war Eugen von einer Hornisse gestochen worden.
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