Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
geschafft hatte,
von der hinteren Gasse hereinzukommen. Kein Einbrecher. Gar nichts
Gefährliches.
Ach so? Und warum prickelten
dann vor Angst ihre Nackenhaare?
Tess stopfte die Hände in die
Taschen ihres Laborkittels und fühlte sich auf einmal sehr verwundbar. Sie
spürte in der Tasche ihren Kugelschreiber, der gegen ihre Finger schlug. Und da
war auch noch etwas anderes.
Stimmt ja. Die Spritze
mit dem Betäubungsmittel, randvoll mit Anästhetika, genug, um ein Tier von
zweihundert Kilo außer Gefecht zu setzen.
„Ist da jemand?“, fragte sie
erneut und versuchte, ihre Stimme stark und ruhig klingen zu lassen. Am
Empfangstresen blieb sie stehen und griff nach dem Telefon. Das verdammte Ding
war nicht schnurlos - Billigware vom Ausverkauf - , und über den Tresen
reichte der Hörer kaum bis an ihr Ohr. Tess ging um den hufeisenförmigen Tisch
herum und sah nervös über die Schulter, als sie auf dem Ziffernblock die Nummer
des Notrufs wählte. „Sie verschwinden besser sofort, weil ich nämlich gerade
die Polizei anrufe.“
„Nein … bitte … haben Sie
keine Angst …“
Die tiefe Stimme war so schwach,
dass sie sie fast nicht gehört hätte. Aber sie hörte sie. So deutlich, als
hätte jemand die Worte neben ihrem Kopf geflüstert. In ihrem Kopf, so
seltsam das war.
Sie hörte ein trockenes Krächzen
und ein heftiges, bellendes Husten, definitiv aus dem Lagerraum. Und wem auch
immer diese Stimme gehörte, es klang, als litte er höllische Schmerzen, als sei
er verletzt. Lebensgefährlich verletzt.
„Verdammt.“
Tess hielt den Atem an und legte
den Hörer auf, bevor am anderen Ende jemand abnahm. Langsam ging sie auf den
hinteren Teil der Klinik zu, nicht sicher, was sie dort vorfinden würde. Sie
wünschte sich wirklich, gar nicht erst nachsehen zu müssen.
„Hallo? Was machen Sie da drin?
Sind Sie verletzt?“
Sie redete mit dem Eindringling,
während sie die Tür aufstieß und hineinging. Sie hörte mühsames Atmen, roch
Rauch und den brackigen Gestank des Flusses. Und sie roch Blut. Eine Menge
Blut.
Tess knipste das Licht an.
An der Decke sprangen summend
die grellen Neonröhren an und beleuchteten einen unglaublichen Anblick: den
riesenhaften Körper eines völlig durchnässten, schwer verletzten Mannes, der
bei einem der Materialregale zusammengesunken war. Er sah aus wie ein schräger
Grufti-Albtraum: schwarze Lederjacke, T-Shirt, Drillichhosen und geschnürte
Lederstiefel mit dicken Profilsohlen. Sogar sein Haar war schwarz, die nassen Strähnen
klebten ihm am Kopf und verdeckten sein abgewandtes Gesicht. Eine hässliche
Spur aus Blut und Flusswasser zog sich von der Hintertür, die zur Gasse halb
offen stand, bis zu der Stelle, wo der Mann in Tess’ Lagerraum
zusammengebrochen war. Er hatte sich offensichtlich kriechend hereingeschleppt,
wahrscheinlich konnte er nicht mehr gehen.
Wenn sie es nicht gewohnt
gewesen wäre, die grauenvollen Folgen von Verkehrsunfällen, Schlägen und
anderen körperlichen Traumata Tag für Tag an ihren Tierpatienten zu sehen,
hätte der Anblick seiner Verletzungen Tess den Magen umgedreht.
Stattdessen schaltete sich nun
ihr Verstand ein. Die aufsteigende Panik und der instinktive Drang, zu kämpfen
oder zu fliehen, die sie eben noch im Empfangsraum gespürt hatte, wichen nun
der Ärztin, zu der sie ausgebildet war. Jetzt war sie nur noch nüchtern, ruhig
und besorgt.
„Was ist mit Ihnen passiert?“
Der Mann stöhnte und schüttelte
leicht seinen dunklen Kopf, so als ob er ihr nicht davon erzählen wollte.
Wahrscheinlich konnte er das auch gar nicht mehr.
„Sie haben überall Brand- und
Fleischwunden. Mein Gott, das müssen ja Hunderte sein. Hatten Sie einen
Unfall?“ Sie sah an ihm hinab, eine seiner Hände ruhte auf seinem Unterbauch,
und durch die Finger sickerte Blut aus einer frischen, tiefen Wunde. „Sie
bluten aus dem Bauch - und an den Beinen auch.
Lieber Himmel, sind Sie
angeschossen worden?“
„Brauche … Blut.“
Da hatte er vermutlich recht.
Der Boden, auf dem er lag, war rutschig und dunkel von dem Blut, das er seit
seiner Ankunft in der Klinik verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er auch schon
vorher eine Menge Blut verloren. Fast jeder Zentimeter seiner unbedeckten Haut
war voller Wunden - sein Gesicht und Hals, seine Hände. Wo Tess auch hinsah,
überall sah sie blutende Schnitte und Quetschungen. Seine Wangen und sein Mund
waren von gespenstischer Blässe.
„Sie brauchen einen Notarzt“,
sagte sie zu ihm. Sie
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