Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
begünstigen. Der Mutter zu vergeben könnte von der Anstrengung entlasten, immerzu Ansprüche einzuklagen. Aufgegeben würde damit die sowieso ständig enttäuschte Hoffnung, die Ansprüche an die Mutter eines Tages vielleicht doch noch befriedigt zu sehen.
Sich selbst gegenüber gnädig zu sein und sich zu vergeben würde es möglich machen, den Krieg gegen die eigenen Verfehlungen einzustellen und vor allem die vergeblichen und selbstdestruktiven Versuche der Wiedergutmachung zu beenden.
Frau Neumann könnte dann das Bemühen aufgeben, eine bessere Mutter für die eigenen Kinder sein zu müssen/zu wollen, als die eigene Mutter es für sie war. Sie könnte die Wiedergutmachungsbemühungen an den eigenen Kindern einstellen und müsste sich nicht weiter auf dem Altar der Wiedergutmachung opfern.
Sich selbst zu vergeben oder gnädig mit sich selbst zu sein heißt aber nicht, den Blick auf sich selbst zu vermeiden. Im Gegenteil. Wenn man sich vergibt, dann gibt man sowohl die Ansprüche an sich selbst auf als auch bestimmte Grundüberzeugungen – zumindest verändert man sie. Grundüberzeugungen darüber, wie wir sind: Realistischerweise keine Engel und keine Teufel, stattdessen widersprüchliche menschliche Wesen in einer widersprüchlichen Welt. Vergebung kann den Weg frei machen, sich selbst und in der Folge auch anderen neu zu begegnen. Denn auch die anderen sind so unvollkommene Wesen wie wir selbst.
Schritte der Vergebung
Beschuldigen: Ohne Schuld kann es keine Vergebung geben. Deshalb ist die wichtigste Voraussetzung des Vergebens die Beschuldigung. Man beschreibt sich in der Rolle des Gläubigers und definiert die Schuld und den Beschuldigten: sich selbst und/oder andere. Das ist weder leicht noch schnell zu bewerkstelligen. Ist man ein depressiver Gläubiger, so hat man oft nur ein diffuses Schuld- oder Beschuldigungsgefühl, wenn man denn überhaupt noch ein Gefühl hat. Durch Beschuldigen nimmt man die Gläubigerrolle an. Dabei hat man aber kaum Chancen, von anderen unterstützt zu werden. Auch wenn Schuld das zentrale Thema des Depressiven ist, findet er bei anderen damit meist kein Gehör. Im Gegenteil: Die anderen, seien es Partner, Angehörige oder auch professionelle Helfer, fühlen sich eingeladen und sehen ihre Aufgabe darin, dem depressiven Gläubiger seine – wie sie wohlwollend meinen – ungerechtfertigten, unrealistischen, ja wahnhaften Schuldgefühle auszureden. Der Blick soll stattdessen auf das vermeintlich Positive gerichtet werden. Oder die Schuld wird einfach biologisch entsorgt: Nicht du bist schuld, sondern die bösen Transmitter im Synapsenspalt. Schuld- und Schuldgefühle in den Blick zu nehmen ist ein Tabu. Die Schuld ist exkommuniziert und damit auch der depressive Gläubiger.
Durch das Beschuldigen übernimmt der Depressive wieder aktiv eine Rolle, die des Gläubigers. Das ist in vielen Fällen mit einer Veränderung der niederdrückenden Empfindungen des Ungenügens, der Minderwertigkeit und des Selbstzweifels verbunden. Der erste Schritt ist getan.
Ansprüche erheben: Der nächste Schritt kann darin bestehen, die Schuld zum Anspruch zu machen, die Fragen zu beantworten: Welche Ansprüche habe ich als Gläubiger an meinen oder meine Schuldner? Welche dieser Ansprüche sind noch nicht erfüllt? Geschieht dies so konkret wie möglich, das heißt so konkret, dass ein Gerichtsvollzieher eine Anleitung zur Vollstreckung der Ansprüche in der Hand hätte, werden die diffusen Gefühle der Schuld immer konkreter und handhabbarer. Damit wird auch die Vergebung handhabbar. Auch wenn weiterhin das Ziel in der Vollstreckung der Ansprüche bestehen kann.
Vergeben: Der nächste Schritt ist die Vergebung: Der Verzicht auf das Einklagen der Ansprüche, der Verzicht auf die Tilgung der Schuld. Vergebung ist die einseitige Aufkündigung des unerbittlichen Vertragsverhältnisses zwischen Gläubiger und Schuldner. Vergeben hat also nichts mit dem Schuldner zu tun. Es wird dabei niemandem vergeben, obwohl uns das alltagssprachliche Verständnis des Begriffes das nahelegt – ich vergebe dir. Das Vergeben ist eine an sich selbst vollzogene Veränderung. Der Gläubiger fällt vom Glauben ab und ist dann nicht mehr der Gleiche. Er hat durch das Aufgeben seiner Ansprüche sich selbst verändert. Er hat seine bisher verpflichtenden Soll-Werte verändert. Insofern ist das Vergeben keine gesellige Veranstaltung, kein public forgiving , sondern ein einsamer Prozess, der unter zwei Augen
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