Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
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Holbein lässt keinen Zweifel daran, dass sein Christus tot ist. Er zeigt einen Leichnam, der bereits verwest: Der Tote, der hier liegt, wird nicht wieder auferstehen. Der Glaube an eine Wiederauferstehung muss bei der Betrachtung dieses Bildes auf ein gewaltiges, die menschliche Vorstellung überschreitendes göttliches Wunder vertrauen. Auf dieser Welt aber bleibt nur die Trauer.
Leichenschau 2
Arnold Böcklins Bild »Die trauernde Magdalena« von 1867 einige Ausstellungsräume weiter zeigt zwar ebenfalls den aufgebahrten Christus, doch könnte der Unterschied zu Holbeins Bild nicht größer sein.
Wir sehen den unversehrten Körper eines noch jungen Mannes. Die Haut ist makellos, der Mann scheint fast friedvoll zu schlafen. Wann wird er erwachen? Was wird dann geschehen? Diesen Menschen, wenn er denn überhaupt tot ist, schaut man ohne Entsetzen an. Warum wendet Magdalena den Blick so erschüttert ab und hält sich mit einer dramatischen Geste die Hand vor die Augen? Auch wenn der Titel des Bildes eine trauernde Magdalena ankündigt, fragen wir uns: Gibt es hier überhaupt etwas zu betrauern? Gibt es überhaupt eine Leiche? Der Betrachter stimmt nicht in Magdalenas theatralisches Trauern ein. Ihm ist zweifelhaft, ob es hier überhaupt einen Verlust gibt.
Trauern dient dem Leben, nicht dem Tod. Im Prozess des Trauerns realisieren und akzeptieren wir langsam den Verlust und können uns dem Leben wieder zuwenden. Hingegen heißt es zu Recht: »Was du nie verlierst, das musst du stets beweinen.« [221]
Der Trauernde sieht dem Verlust oder dem Tod ins Auge und bleibt dadurch lebendig. Er gewinnt sich selbst neu, während ihm ein wichtiger Teil seiner Welt und seines Glaubens verlorengeht. Dagegen hält der Depressive Totes am Leben und tötet dadurch Lebendiges, nämlich sich selbst oder einen wesentlichen Teil seiner Möglichkeiten. Der Depressive verliert sich selbst, während er an einem für ihn wichtigen Teil seiner Welt oder seines Glaubens festhält.
Lob des Negativen
Ich möchte an dieser Stelle einen Mann zu Wort kommen lassen, der dem Negativen furchtlos ins Auge geschaut hat und sich den Blick durch falsche Tröstungen nicht trüben ließ. Hegel beschreibt in seiner Phänomenologie des Geistes , wie aus der Konfrontation mit dem Tod, der ungeheuren Macht des Negativen, das Denken entsteht und das Neue. Er beschreibt, was ich als Trauern bezeichnet habe:
»Der Tod […] ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was größte Kraft erfordert […] Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgendetwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.« [222]
Abschied von der Depression: trauern, aufgeben und vergeben
Depressionen sind Glaubenskrisen. Die Vorstellung, wie ich selbst, die anderen und die Welt zu sein haben, ist in Frage gestellt. Im Kampf um die eigenen Überzeugungen nehmen wir viel in Kauf. Aber irgendwann befindet man sich nur noch im Stellungskrieg: Geduckt in den Schlamm des Schützengrabens, gewinnt man keinen Meter Land und will doch nicht aufgeben. Genau das aber könnte man: Man kann die weiße Fahne der Kapitulation hissen, den Krieg für verloren erklären und den Kampf aufgeben. Wer kapituliert, entscheidet, ob und wann der Krieg zu Ende ist. Wer aufgibt, kann irgendwann vergeben. Und wer vergibt, gibt etwas auf.
Frau Neumann: Schuld und Wiedergutmachung – revisited 1
Vielleicht erinnern Sie sich noch an Frau Neuman (Kap. 9, S. 224ff.): Bei ihr sahen wir ein zweifaches Schuld- und Beschuldigungsszenario. Frau Neumann warf zum einen ihrer Mutter vor, sie nie unterstützt zu haben, und sie beschuldigte andererseits sich selbst, weil sie ihr erstes Kind im Stich gelassen hatte. Die Versuche zur Wiedergutmachung der eigenen Schuld führten sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit, ins Burn-out und in die Erschöpfungsdepression.
Der Akt des Vergebens könnte hier in zweifacher Weise den Ausstieg aus der Depression
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